Koran fordert kein Todesurteil für Konvertiten
Nach Ansicht des Religionswissenschaftlers Hayrettin Aydin ist eine Todesdrohung vom Koran nicht gedeckt, wenn ein Gläubiger vom Islam in eine andere Religion konvertiert. Im Koran stehe nur, dass ein Gläubiger von Gott zuu Rechenschaft gezogen werde, nicht aber von Menschen, sagte Aydin anlässlich des Falles Abdul Rahman in Afghanistan.
Dieter Kassel: Kann ein Gesetz - welches Gesetz auch immer - heilig sein?
Hayrettin Aydin: Nein. Gesetze sind auch im islamischen Verständnis immer Menschenwerk. Also der Ausfluss der Interpretation des Offenbarungstextes, im islamischen Falle dann. Aber sie sind nicht heilig. Es gibt einige Theologen durchaus, es gab immer Theologen, und es gibt auch heute noch Theologen, die dem beizeiten entwickelten Recht, das Sozialleben regeln sollte - oder teilweise auch noch soll in bestimmten Staaten -, so etwas wie Unveränderlichkeit zuschrieben. Aber das ist mit Sicherheit nicht mit dem Begriff Heiligkeit wiederzugeben. Das ist vielleicht etwas, was man als Dogmatisierung dann bezeichnen könnte.
Kassel: Nun gibt es den ganz schwammigen Begriff religiöses Recht, dann gibt es den immer noch relativ schwammigen Begriff islamisches Recht und dann - wir Deutsche hören das Wort immer gerne, weil wir das dann viel konkreter finden - gibt es die Scharia. Ist das ein Gesetzbuch, ist das irgendein Text, wo wirklich steht: Paragraph 17, wenn jemand das macht, passiert ihm das?
Aydin: Nein, nein, mit Sicherheit nicht. Jeder Muslim weiß, dass er auf zwei Urquellen zurückgreifen muss, verbindlich. Das ist ja der Koran als geoffenbartes Wort Gottes und die so genannten Hadithe, das sind die Überlieferungen des Propheten, die prophetischen Überlieferungen, also seine vorbildlichen Handlungsweisen, die überliefert wurden, beziehungsweise auch seine Sprüche, die festgehalten wurden. Das sind die eigentlich verbindlichen Quellen. Im Koran, der Koran ist kein Gesetzestext, wenn man so will. Es ist eine Ansammlung von Suren, also Abschnitten, die zu verschiedensten Themen dann, sich auf verschiedenste Themen beziehen. Es gibt im Koran einzelne Stellen, wo etwas konkreter beschrieben wird, was gemacht werden soll, was nicht gemacht werden soll. Aber quasi die Verbindlichkeit gilt für den Gläubigen in seinem Herzen und in seinem Handeln. Es hat in der Geschichte recht bald - also im 8. und 9. Jahrhundert schon - die Entwicklung von Rechtsschulen gegeben und zwar verschiedenen Rechtsschulen, die sich dann als etwas Dogmatisches dann auch haben etablieren können. Das heißt, dass beizeiten von denen, die von ihnen entwickelten Analogieschlüsse beispielsweise mit Bezug auf den Ausspruch des Propheten beziehungsweise mit Verweis auf eine bestimmte Koranstelle werden in der Tradition dann als verbindlich und unveränderlich gesehen. Aber das ist von der Einstufung her völlig falsch, weil es ist menschliche Interpretation. Scharia als Begriff wird häufig mit Gesetz, Gesetzesbuch gleichgesetzt, aber Scharia als Begriff hat eigentlich eine ursprünglich ganz andere Bedeutung, nämlich "der Weg zur Tränke", "der Weg zur Quelle", was quasi synonym ist für die Suche nach dem richtigen Verständnis des geoffenbarten Textes, der Offenbarung. Und die fällt jeweils unterschiedlich aus.
Kassel: Wenn ein Moslem seinen Glauben verlässt - ich formuliere es ganz vorsichtig: Ob er nun Christ wird, Jude oder einfach aufhört, einer Glaubensgemeinschaft anzugehören -, muss er getötet werden. Wo steht denn das?
Aydin: Das steht nicht im Koran. Es steht im Koran, dass er dann zur Rechenschaft gezogen wird - aber von Gott, nicht vom Menschen. Nicht vom Menschen. Der Mensch darf sich bitte nicht als Gottes "willing executer" hier auf der Welt verstehen. Das ist eine Missinterpretation. Es wird von vielen strengen, streng orthodoxen Theologen und, ja, Sakraljuristen, wie sie genannt werden, so verstanden. Aber damit schießt man ein wenig über das Ziel hinaus. Also das, was im Koran - so verstehe ich es -, dort an Sanktionen ausgesprochen wird, das ist das so genannte göttliche Recht: Gott befindet darüber, was mit seinen Geschöpfen passiert. Nicht der Mensch. Der Mensch handelt nicht in Gottes Namen. Und schon gar nicht in diesem Falle. Und die Freiheit im Glauben - das ist dann auch eine berühmte Stelle im Koran, die immer wieder zitiert wird: Der Mensch ist in Glaubenssachen frei. Also es wird umgekehrt formuliert, es heißt an einer Stelle, in einem Vers im Koran: "Es gibt keinen Zwang im Glauben."
Kassel: Das würde aber bedeuten, wenn in Afghanistan Abdul Rahman - im Moment sieht es ja aus ganz anderen Gründen, wegen der Frage der Zurechnungsfähigkeit, nicht mehr so aus -, aber wenn er hingerichtet werden würde, dann würde das nicht nur den Menschenrechten und möglicherweise - ja strittig - sogar dem afghanischen Gesetz widersprechen, sondern es würde auch den Regeln des Islam widersprechen?
Aydin: So kann man den Koran auch interpretieren. Und so würde ich ihn interpretieren.
Kassel: Reden wir nicht nur über Afghanistan. Das ist jetzt natürlich uns doppelt präsent - es ist ein aktueller Fall, Deutschland ist sehr involviert in den Wiederaufbau in diesem Land. Wie sieht es denn in der restlichen islamischen Welt aus? Gibt und gab es denn Fälle, wo - in Ägypten, in Nigeria, in Malaysia, wo auch immer - Menschen wirklich nach einem Gerichtsurteil getötet wurden, weil sie konvertiert waren?
Aydin: Mir sind jetzt keine konkreten Fälle bekannt. Aber ich kann es mir vorstellen für bestimmte Länder, in denen ein strenges, nach dem Koran und den Hadithes entwickeltes Rechtssystem besteht, wie in Saudi-Arabien. Es gibt Länder, in denen es sehr strenge Körperstrafen bis hin auch zu Hinrichtungen - also man kennt die klassischen Beispiele: Saudi-Arabien, wo man für einen Diebstahl die Hand dann abgetrennt, abgehakt bekommt; oder Nigeria hat jetzt auch seit einigen Jahren ein Regime, das sich als islamisch begreift und entsprechend auch beispielsweise Ehebruch dann mit Steinigung bestrafen lässt. Das ist alles ziemlich hanebüchen, auch aus meiner muslimischen Sicht. Es gibt solche Staaten, der Apostasie, also Glaubensabfall, wird - es gibt den berühmten Fall des ägyptischen Literaturwissenschaftlers Abu Zaid, der dann das Land verlassen musste. Der wurde, besser gesagt, seine Frau wurde von ihm zwangsgeschieden, weil er von einigen Theologen in Ägypten zum Apostaten erklärt wurde. Aber es gibt dort keine Todesstrafe dafür. Man kann zum Apostat erklärt werden und weil das ägyptische Zivilrecht sich doch nach der Religionszugehörigkeit richtet - das heißt, in Ägypten heiraten Juden nach jüdischem Recht, Christen nach christlichen Bestimmungen und Muslime nach islamischen Bestimmungen -, dort ist der Fall gewesen, dass Abu Said dann gegen seinen Willen und gegen den Willen seiner Frau von seiner Frau geschieden wurde, weil sie nicht mit einem Apostaten zusammenleben durfte. Das war quasi die Grundlage. Aber die war nicht verbunden mit einer Strafe wie Gefängnis und schon gar nicht mit einer Bestrafung wie der Todesstrafe beispielsweise.
Kassel: Woher kommt denn der Grundkonflikt - auch wenn Sie ja gerade erklärt haben, vieles, was jetzt - ich sage es mal sehr lapidar - auf den Islam und den Koran geschoben wird an angeblichen Notwendigkeiten, muss man nicht so interpretieren. Aber woher kommt denn der Grundkonflikt, den es in der arabischen Welt oft gibt zwischen weltlichen Gesetzen, die sich vielleicht am Westen orientieren, die sich schlicht an den Menschenrechten orientieren, und an den angeblichen islamischen Gesetzen? Woher kommt dieser Konflikt?
Aydin: Der Konflikt ist quasi Ausdruck des, ja, Modernisierungsprozesses, wenn Sie so wollen. Und die Konflikte rühren auch ein wenig in dem so genannten asymmetrischen Verhältnis. Also viele Länder, Gesellschaften, die einen islamischen Background haben, eine islamische Tradition, eine islamische Geschichte, haben den Eindruck, dass der Westen, der so genannte, in Anführungszeichen der Westen, versucht, ihnen, ihren Ländern, ihren Gesellschaften, etwas aufzuzwingen, und machen im Grunde genommen dagegen mobil. Wenn Menschen, Gelehrte in diesen Ländern selber sich ganz nüchtern hinsetzen, kommen sie ohnehin häufig zu dem Schluss, dass das eigene Recht modernisiert werden muss. Das gilt auch für die islamische Republik Iran, die uns ja auch als Negativbeispiel immer vor Augen schwebt. Dort haben Sie auch Theologen, die sagen, dass die Ungleichbehandlung der Frau heutzutage nicht mehr aufrechtzuerhalten sei, weil die Frau in der heutigen Zeit dem Mann in nichts nachsteht, auch was ihre, ja, Erfahrung und ihre Kenntnisse anbelangt. Und das sind Stimmen, die hört man eigentlich eher zu selten, beziehungsweise diese Stimmen haben dann in solchen Ländern leider auch zu wenig Gewicht.
Kassel: Gehen wir mal nach Deutschland. Es hat ja - was wieder diesen Afghanistan-Fall angeht - eindeutige Stellungnahmen vieler muslimischer Organisationen gegeben. Das ist ja immer ein bisschen kompliziert, weil es nicht die muslimische Kirche gibt, wie bei den Christen, anderen Religionsgemeinschaften. Aber viele, die zumindest immer für einen Teil der Moslems sprechen können, haben sich deutlich ausgesprochen, was diesen Fall angeht. Aber wie problematisch ist das für streng gläubige Muslime, die in Deutschland leben? Wir wissen ja gerade am Beispiel der Türken - wissen Sie besser als ich -, dass teilweise in Deutschland lebende Türken sehr viel konservativer und religiöser sind als die Türken in der Türkei, zumindest dort in den großen Städten. Wie ist das denn in Deutschland? Sagen die Menschen hier eher: Das ist ja furchtbar in Afghanistan, was wirft das wieder für ein Licht auf uns? Oder sehen die eher wieder diesen Konflikt, den auch Sie jeden Tag haben, mit ihren Gesetzen und den deutschem Grundgesetz?
Aydin: Nein, eigentlich nicht. Sie wissen sehr wohl zu unterscheiden. So ein Kollektivbewusstsein in dem Sinne gibt es nicht. Das war etwas, was wir auch gestern Abend auf dem Podium dann diskutiert hatten beziehungsweise auch danach noch. Das Bewusstsein, Verantwortungsbewusstsein, ist individuell. Das heißt: Ich als Muslim fühle mich nicht dafür verantwortlich, was irgendein - in Anführungszeichen - durchgeknallter Muslim sonst wo in der Welt tut. Der wird dafür haftbar gemacht beziehungsweise muss dafür haftbar gemacht werden beziehungsweise muss daran behindert werden, dass er ein Verbrechen begehen kann - wenn man Recht und das Rechtssystem im Sinne von Prophylaxe versteht. Aber die Muslime selber, sie werden in Deutschland eigentlich immer wieder - es gibt natürlich die extremistischen, einzelne extremistisch orientierte Personen, und da muss man auch sehr darauf achten, dass die keinen Unfug hier anstellen -, aber die Mehrheit wird im Grunde genommen immer wieder dazu gedrängt, Stellung zu beziehen zu etwas, was für sie ohnehin selbstverständlich ist. Also man zwingt ihnen das Bekenntnis ab: Wir sind gewaltfrei, also wir haben mit Gewalt nichts am Hut. Man zwingt sie da zu etwas, was für sie ohnehin selbstverständlich ist. Also die meisten der hier lebenden Muslime sind friedfertig, die haben keine Vorstellungen davon, dass man einen Staat errichten sollte, der nach islamischen Regeln funktioniert. Das ist jenseits ihrer Vorstellungen. Und man tritt immer wieder an sie heran. Es ist bis zu einem bestimmten Grad ja auch nachvollziehbar. Aber manchmal fühlen sie sich damit ein wenig bedrängt. Dass sie sagen, immer wieder bekennen müssen, dass sie mit Gewalt nichts zu tun haben, obwohl sie ihr liebes langes Leben, das dann 40, 50, 60 Jahre schon währt, nie etwas mit Gewalt am Hut hatten und auch nicht vorhatten.
Hayrettin Aydin: Nein. Gesetze sind auch im islamischen Verständnis immer Menschenwerk. Also der Ausfluss der Interpretation des Offenbarungstextes, im islamischen Falle dann. Aber sie sind nicht heilig. Es gibt einige Theologen durchaus, es gab immer Theologen, und es gibt auch heute noch Theologen, die dem beizeiten entwickelten Recht, das Sozialleben regeln sollte - oder teilweise auch noch soll in bestimmten Staaten -, so etwas wie Unveränderlichkeit zuschrieben. Aber das ist mit Sicherheit nicht mit dem Begriff Heiligkeit wiederzugeben. Das ist vielleicht etwas, was man als Dogmatisierung dann bezeichnen könnte.
Kassel: Nun gibt es den ganz schwammigen Begriff religiöses Recht, dann gibt es den immer noch relativ schwammigen Begriff islamisches Recht und dann - wir Deutsche hören das Wort immer gerne, weil wir das dann viel konkreter finden - gibt es die Scharia. Ist das ein Gesetzbuch, ist das irgendein Text, wo wirklich steht: Paragraph 17, wenn jemand das macht, passiert ihm das?
Aydin: Nein, nein, mit Sicherheit nicht. Jeder Muslim weiß, dass er auf zwei Urquellen zurückgreifen muss, verbindlich. Das ist ja der Koran als geoffenbartes Wort Gottes und die so genannten Hadithe, das sind die Überlieferungen des Propheten, die prophetischen Überlieferungen, also seine vorbildlichen Handlungsweisen, die überliefert wurden, beziehungsweise auch seine Sprüche, die festgehalten wurden. Das sind die eigentlich verbindlichen Quellen. Im Koran, der Koran ist kein Gesetzestext, wenn man so will. Es ist eine Ansammlung von Suren, also Abschnitten, die zu verschiedensten Themen dann, sich auf verschiedenste Themen beziehen. Es gibt im Koran einzelne Stellen, wo etwas konkreter beschrieben wird, was gemacht werden soll, was nicht gemacht werden soll. Aber quasi die Verbindlichkeit gilt für den Gläubigen in seinem Herzen und in seinem Handeln. Es hat in der Geschichte recht bald - also im 8. und 9. Jahrhundert schon - die Entwicklung von Rechtsschulen gegeben und zwar verschiedenen Rechtsschulen, die sich dann als etwas Dogmatisches dann auch haben etablieren können. Das heißt, dass beizeiten von denen, die von ihnen entwickelten Analogieschlüsse beispielsweise mit Bezug auf den Ausspruch des Propheten beziehungsweise mit Verweis auf eine bestimmte Koranstelle werden in der Tradition dann als verbindlich und unveränderlich gesehen. Aber das ist von der Einstufung her völlig falsch, weil es ist menschliche Interpretation. Scharia als Begriff wird häufig mit Gesetz, Gesetzesbuch gleichgesetzt, aber Scharia als Begriff hat eigentlich eine ursprünglich ganz andere Bedeutung, nämlich "der Weg zur Tränke", "der Weg zur Quelle", was quasi synonym ist für die Suche nach dem richtigen Verständnis des geoffenbarten Textes, der Offenbarung. Und die fällt jeweils unterschiedlich aus.
Kassel: Wenn ein Moslem seinen Glauben verlässt - ich formuliere es ganz vorsichtig: Ob er nun Christ wird, Jude oder einfach aufhört, einer Glaubensgemeinschaft anzugehören -, muss er getötet werden. Wo steht denn das?
Aydin: Das steht nicht im Koran. Es steht im Koran, dass er dann zur Rechenschaft gezogen wird - aber von Gott, nicht vom Menschen. Nicht vom Menschen. Der Mensch darf sich bitte nicht als Gottes "willing executer" hier auf der Welt verstehen. Das ist eine Missinterpretation. Es wird von vielen strengen, streng orthodoxen Theologen und, ja, Sakraljuristen, wie sie genannt werden, so verstanden. Aber damit schießt man ein wenig über das Ziel hinaus. Also das, was im Koran - so verstehe ich es -, dort an Sanktionen ausgesprochen wird, das ist das so genannte göttliche Recht: Gott befindet darüber, was mit seinen Geschöpfen passiert. Nicht der Mensch. Der Mensch handelt nicht in Gottes Namen. Und schon gar nicht in diesem Falle. Und die Freiheit im Glauben - das ist dann auch eine berühmte Stelle im Koran, die immer wieder zitiert wird: Der Mensch ist in Glaubenssachen frei. Also es wird umgekehrt formuliert, es heißt an einer Stelle, in einem Vers im Koran: "Es gibt keinen Zwang im Glauben."
Kassel: Das würde aber bedeuten, wenn in Afghanistan Abdul Rahman - im Moment sieht es ja aus ganz anderen Gründen, wegen der Frage der Zurechnungsfähigkeit, nicht mehr so aus -, aber wenn er hingerichtet werden würde, dann würde das nicht nur den Menschenrechten und möglicherweise - ja strittig - sogar dem afghanischen Gesetz widersprechen, sondern es würde auch den Regeln des Islam widersprechen?
Aydin: So kann man den Koran auch interpretieren. Und so würde ich ihn interpretieren.
Kassel: Reden wir nicht nur über Afghanistan. Das ist jetzt natürlich uns doppelt präsent - es ist ein aktueller Fall, Deutschland ist sehr involviert in den Wiederaufbau in diesem Land. Wie sieht es denn in der restlichen islamischen Welt aus? Gibt und gab es denn Fälle, wo - in Ägypten, in Nigeria, in Malaysia, wo auch immer - Menschen wirklich nach einem Gerichtsurteil getötet wurden, weil sie konvertiert waren?
Aydin: Mir sind jetzt keine konkreten Fälle bekannt. Aber ich kann es mir vorstellen für bestimmte Länder, in denen ein strenges, nach dem Koran und den Hadithes entwickeltes Rechtssystem besteht, wie in Saudi-Arabien. Es gibt Länder, in denen es sehr strenge Körperstrafen bis hin auch zu Hinrichtungen - also man kennt die klassischen Beispiele: Saudi-Arabien, wo man für einen Diebstahl die Hand dann abgetrennt, abgehakt bekommt; oder Nigeria hat jetzt auch seit einigen Jahren ein Regime, das sich als islamisch begreift und entsprechend auch beispielsweise Ehebruch dann mit Steinigung bestrafen lässt. Das ist alles ziemlich hanebüchen, auch aus meiner muslimischen Sicht. Es gibt solche Staaten, der Apostasie, also Glaubensabfall, wird - es gibt den berühmten Fall des ägyptischen Literaturwissenschaftlers Abu Zaid, der dann das Land verlassen musste. Der wurde, besser gesagt, seine Frau wurde von ihm zwangsgeschieden, weil er von einigen Theologen in Ägypten zum Apostaten erklärt wurde. Aber es gibt dort keine Todesstrafe dafür. Man kann zum Apostat erklärt werden und weil das ägyptische Zivilrecht sich doch nach der Religionszugehörigkeit richtet - das heißt, in Ägypten heiraten Juden nach jüdischem Recht, Christen nach christlichen Bestimmungen und Muslime nach islamischen Bestimmungen -, dort ist der Fall gewesen, dass Abu Said dann gegen seinen Willen und gegen den Willen seiner Frau von seiner Frau geschieden wurde, weil sie nicht mit einem Apostaten zusammenleben durfte. Das war quasi die Grundlage. Aber die war nicht verbunden mit einer Strafe wie Gefängnis und schon gar nicht mit einer Bestrafung wie der Todesstrafe beispielsweise.
Kassel: Woher kommt denn der Grundkonflikt - auch wenn Sie ja gerade erklärt haben, vieles, was jetzt - ich sage es mal sehr lapidar - auf den Islam und den Koran geschoben wird an angeblichen Notwendigkeiten, muss man nicht so interpretieren. Aber woher kommt denn der Grundkonflikt, den es in der arabischen Welt oft gibt zwischen weltlichen Gesetzen, die sich vielleicht am Westen orientieren, die sich schlicht an den Menschenrechten orientieren, und an den angeblichen islamischen Gesetzen? Woher kommt dieser Konflikt?
Aydin: Der Konflikt ist quasi Ausdruck des, ja, Modernisierungsprozesses, wenn Sie so wollen. Und die Konflikte rühren auch ein wenig in dem so genannten asymmetrischen Verhältnis. Also viele Länder, Gesellschaften, die einen islamischen Background haben, eine islamische Tradition, eine islamische Geschichte, haben den Eindruck, dass der Westen, der so genannte, in Anführungszeichen der Westen, versucht, ihnen, ihren Ländern, ihren Gesellschaften, etwas aufzuzwingen, und machen im Grunde genommen dagegen mobil. Wenn Menschen, Gelehrte in diesen Ländern selber sich ganz nüchtern hinsetzen, kommen sie ohnehin häufig zu dem Schluss, dass das eigene Recht modernisiert werden muss. Das gilt auch für die islamische Republik Iran, die uns ja auch als Negativbeispiel immer vor Augen schwebt. Dort haben Sie auch Theologen, die sagen, dass die Ungleichbehandlung der Frau heutzutage nicht mehr aufrechtzuerhalten sei, weil die Frau in der heutigen Zeit dem Mann in nichts nachsteht, auch was ihre, ja, Erfahrung und ihre Kenntnisse anbelangt. Und das sind Stimmen, die hört man eigentlich eher zu selten, beziehungsweise diese Stimmen haben dann in solchen Ländern leider auch zu wenig Gewicht.
Kassel: Gehen wir mal nach Deutschland. Es hat ja - was wieder diesen Afghanistan-Fall angeht - eindeutige Stellungnahmen vieler muslimischer Organisationen gegeben. Das ist ja immer ein bisschen kompliziert, weil es nicht die muslimische Kirche gibt, wie bei den Christen, anderen Religionsgemeinschaften. Aber viele, die zumindest immer für einen Teil der Moslems sprechen können, haben sich deutlich ausgesprochen, was diesen Fall angeht. Aber wie problematisch ist das für streng gläubige Muslime, die in Deutschland leben? Wir wissen ja gerade am Beispiel der Türken - wissen Sie besser als ich -, dass teilweise in Deutschland lebende Türken sehr viel konservativer und religiöser sind als die Türken in der Türkei, zumindest dort in den großen Städten. Wie ist das denn in Deutschland? Sagen die Menschen hier eher: Das ist ja furchtbar in Afghanistan, was wirft das wieder für ein Licht auf uns? Oder sehen die eher wieder diesen Konflikt, den auch Sie jeden Tag haben, mit ihren Gesetzen und den deutschem Grundgesetz?
Aydin: Nein, eigentlich nicht. Sie wissen sehr wohl zu unterscheiden. So ein Kollektivbewusstsein in dem Sinne gibt es nicht. Das war etwas, was wir auch gestern Abend auf dem Podium dann diskutiert hatten beziehungsweise auch danach noch. Das Bewusstsein, Verantwortungsbewusstsein, ist individuell. Das heißt: Ich als Muslim fühle mich nicht dafür verantwortlich, was irgendein - in Anführungszeichen - durchgeknallter Muslim sonst wo in der Welt tut. Der wird dafür haftbar gemacht beziehungsweise muss dafür haftbar gemacht werden beziehungsweise muss daran behindert werden, dass er ein Verbrechen begehen kann - wenn man Recht und das Rechtssystem im Sinne von Prophylaxe versteht. Aber die Muslime selber, sie werden in Deutschland eigentlich immer wieder - es gibt natürlich die extremistischen, einzelne extremistisch orientierte Personen, und da muss man auch sehr darauf achten, dass die keinen Unfug hier anstellen -, aber die Mehrheit wird im Grunde genommen immer wieder dazu gedrängt, Stellung zu beziehen zu etwas, was für sie ohnehin selbstverständlich ist. Also man zwingt ihnen das Bekenntnis ab: Wir sind gewaltfrei, also wir haben mit Gewalt nichts am Hut. Man zwingt sie da zu etwas, was für sie ohnehin selbstverständlich ist. Also die meisten der hier lebenden Muslime sind friedfertig, die haben keine Vorstellungen davon, dass man einen Staat errichten sollte, der nach islamischen Regeln funktioniert. Das ist jenseits ihrer Vorstellungen. Und man tritt immer wieder an sie heran. Es ist bis zu einem bestimmten Grad ja auch nachvollziehbar. Aber manchmal fühlen sie sich damit ein wenig bedrängt. Dass sie sagen, immer wieder bekennen müssen, dass sie mit Gewalt nichts zu tun haben, obwohl sie ihr liebes langes Leben, das dann 40, 50, 60 Jahre schon währt, nie etwas mit Gewalt am Hut hatten und auch nicht vorhatten.