Konzert der Vielen: Solisten, zwei Chöre, zwei Orchester in einem Werk

Arnold Schönbergs „Gurre-Lieder“ mit Marek Janowski

Ein Orchester und ein Chor nehmen mit einem Dirigenten den Beifall des Publikums in der Berliner Philharmonie an.
Unsere Reihe "Konzert XXL" stellt monumental besetzte Konzertereignisse der vergangenen Jahre vor. Der Dirigent Marek Janowski hat viel Erfahrung mit großen Besetzungen, hier mit dem RSB und dem MDR Chor. © RSB Archiv / Presse
Moderation: Stefan Lang · 18.08.2020
Auch das Musikleben befindet sich seit Monaten im Ausnahmezustand. Wir erinnern an das, was fehlt – und senden eine Woche lang Aufzeichnungen von monumental besetzten Konzerten der vergangenen Jahre. Heute die opulenten "Gurre-Lieder".
Wenn überhaupt etwas stattfindet, dann sind das klein besetzte Aufführungen, deren komplexe Veranstaltungslogistik fast genauso im Vordergrund steht wie die Musik als solche. Die umfassend abgesicherten Produktionen der Salzburger Festspiele stellen eine der wenigen – teils kritisch beäugten – Ausnahmen dar.
Dass Not erfinderisch macht, haben in letzter Zeit viele Institutionen, viele Musikerinnen und Musiker bewiesen. Klein besetzte Werke, unkonventionelle Arrangements, "Geisterkonzerte" und Freiluftaufführungen waren das Gebot der Stunde. Die Programme des Deutschlandradios haben sie bei der Etablierung dieses Notbetriebs mit zahlreichen Live-Übertragungen unterstützt.

Karte gesucht

Nun naht die Saison 2020/21 mit großen Schritten, und obwohl viele Veranstalter dicke Spielzeitbroschüren mit optimistischen Planungen herausgegeben haben, ist jetzt schon absehbar, dass vieles davon nicht realisierbar sein wird.
In dieser Situation denkt die Redaktion "Musik / Produktion", die im Deutschlandfunk Kultur für Konzert- und Opernübertragungen zuständig ist, geradezu wehmütig an das, was fehlt. Ein Streifzug durch das gut bestückte Archiv des Berliner Funkhauses offenbart, was wir vermissen, was uns begeistert, was uns mit Neugier und Vorfreude erfüllt, wenn wir uns unter normalen Umständen auf den Weg zu Konzert- und Opernproduktionen begeben.
Eine von einem Handschuh umhüllte Hand hält ein Pappschild mit der Aufschrift "Suche Karte" in die Kamera.
Ehemaliger Alltag vor der Philharmonie: die Suche nach Restkarten.© imago images / Christian Spicker
Nichts schöner, als ein großes Werk in einem restlos ausverkauften Saal erleben zu können, in einem Haus, vor dem Menschen – ohne Einhaltung irgendwelcher Abstände – Pappschilder mit der Aufschrift "Suche Karte!" hochhalten.

Krone statt Corona

Bevor also der Spielbetrieb mit sämtlichen Vorsichtsmaßnahmen und äußerst eingeschränktem Kartenverkauf wiederaufgenommen wird, wollen wir in unseren Konzertsendungen lieber über Kronen als über Corona sprechen, wollen wir majestätische Höhepunkte des vergangenen Konzertlebens Revue passieren lassen und Musik zur Sendung bringen, auf deren nächste Live-Darbietung wir wohl oder übel noch eine ganze Zeit lang warten müssen.
Gustav Mahler, Félicien David, Karol Szymanowski, Edward Elgar und Alexander Skrjabin heißen die Komponisten, deren Großwerke nun aus dem Archiv geholt werden. Und Arnold Schönberg, denn den blaublütigen Anfang der Reihe macht das Orchestre Philharmonique de Monte-Carlo, das gemeinsam mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin und einer ganzen Heerschar von Sängerinnen und Sängern 2007 die "Gurre-Lieder" in der Berliner Philharmonie präsentierte.

Royale Dramen

Das von Marek Janowski, dem damaligen Chefdirigenten beider Ensembles, geleitete Konzert mit über 300 Mitwirkenden wollte sich auch Prinzessin Caroline von Monaco nicht entgehen lassen – sie erlebte ein wahrhaft royales Drama aus dem alten Dänemark, mit einem am Herrgott verzweifelnden, wütend dahinjagenden König Waldemar, der seine getötete Geliebte Tove im Himmel zurückerobern will. Die Berichterstattung der "Bunten" ist nichts gegen das, was Jens Peter Jacobsen in diesem Text an Liebe, Eifersucht, Hofintrigen und Rache aufbietet!
Dabei ist der literarische Rahmen, dem Schönberg diese Verse entnahm, geradezu bescheiden: In der Erzählung "Ein Kaktus erblüht" warten fünf junge Männer auf die bevorstehende Blüte eines Kaktus und versuchen unterdessen, eine junge Frau mit Erzählungen zu beeindrucken – die Geschichte von König Waldemar ist eine davon.

Warten auf den großen Knall

Schönbergs Komposition und ihre Entstehung spiegelt diese Situation wider – es ist eine Art Warten auf den großen Knall, auf das üppige Erblühen der Klänge, denn zunächst war dieses Werk, eines der größten seiner Art, ein Liederzyklus mit Klavierbegleitung.
Dann wurde die Komposition des leidenschaftlichen Bewunderers von Gustav Mahler immer riesenhafter, bis Schönberg sie 1903 halbfertig liegenließ. Als er sie acht Jahre später vollendete, hatte sich seine Musiksprache so verändert, dass er die Flucht nach vorne antrat und den Stilbruch zum Stilmittel erklärte.
Ein älterer Mann sitzt in einem karg eingerichteten Arbeitszimmer und schaut in die Kamera.
Arnold Schönberg 1911 in seinem Studio.© imago images / Everett Collection
So sind die faszinierend vielgestaltigen "Gurre-Lieder" zugleich ein Kompendium des Komponierens um 1900 – aus dem spätromantischen Kunstlied kommend, das Opernhafte übertreffend und dieses zugleich mit den Mitteln eines ironischen Melodrams sezierend.

Die Idee der Gegenkonzepte

Kein Wunder, dass Schönberg und seine Schüler nach ihren monumentalen Werken aus dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts immer wieder für auffallend kleine und ungewöhnliche Besetzungen schrieben. Diese wiederum – so die vorerst letzte Pointe in der Geschichte des Musiklebens – haben wiederum ideale Voraussetzungen für das Musizieren unter Corona-Bedingungen.
Aufzeichnung vom 31. März 2007 in der Philharmonie Berlin
Arnold Schönberg
"Gurre-Lieder" für Soli, gemischte Chöre und großes Orchester
(Text: Jens Peter Jacobsen)

Tove – Eva-Maria Westbroek, Sopran
Waldtaube – Petra Lang, Mezzosopran
Waldemar – Stephen Gould, Tenor
Klaus-Narr – Arnold Bezuyen, Tenor
Bauer – Kwangchul Youn, Bass
François Le Roux, Sprecher

MDR-Rundfunkchor Leipzig
Rundfunkchor Berlin
Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin
Orchestre Philharmonique de Monte-Carlo
Leitung: Marek Janowski

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