Konzeptkunst

Der tote Wurm als Kunst

Von Arno Orzessek  · 22.09.2014
Alles ist in Veränderung begriffen - und das ist schon die einzige Klammer, die thematisch die Ausstellung "The Ultimate Capital is the sun" zusammenhält. Denn alle Objekte verkörpern Metabolismus - irgendwie.
Nicht zuletzt hat die Ausstellung ein Todesopfer gefordert - indessen ein tierisches und kleines. Es ist der Wurm in Yves Mettlers Arbeit "Regressive Landscape", also etwa: "Rückschreitende Landschaft", zu der Fotos auf Recyclingpapier, ein Glasbehältnis und ein Video gehören.
Der Schweizer Künstler hat auf der Europa-City-Baustelle hinter dem Berliner Hauptbahnhof eine Probe genommen. Genauer: Er hat ein Glas mit der aus der Tiefe aufgeworfenen Baustellen-Erde gefüllt, es zur Schichtung des Materials geschüttelt und luftdicht abgeschlossen.
Yves Mettler: "Und dann sieht man halt, in diesem Fall ist so ein kleiner Wurm gefangen geblieben. Und der ist nach 72 Stunden Tanz - das sieht man hier im Video, da tanzt er - der versucht halt in die Erde wieder reinzugehen, das ist ja ein Erdwurm. Das kann er aber nicht, weil der Lehm, der ist ganz oben, der ist so dicht, dass er nicht wieder reinkommt. Also, er stirbt. Also, er möchte in die Erde, er kommt nicht in die Erde. Dann stirbt er."
Nicht aber der Tod des armen Wurms ist die Hauptsache, sondern seine Verwandlung - die Mettler auf den Fotos festgehalten hat.
Yves Mettler:"Erst gehen die letzten Gase raus, also Sauerstoff oder Dioxid. Und dann fängt er an, sich zu zerbröseln. Dann fangen all diese kleinen Fäden sich zu bilden. Der ganze Körper nimmt das ganze Glas ein und am Ende kommen diese Fäden wieder zum Boden zurück und bilden eine ganze Landschaft. Und da hat man diese Frage vom Metabolismus. Und die Frage: Wo hört es auf? Also, ich bin ein Metabolismus, der in einem Metabolismus etc."
"Wo hört es auf?" ist auch die Hauptfrage im Blick auf das Ausstellungskonzept.
Abstrakt angelegte Ausstellung
Der schmuck-ironische Titel "The Ultimate Capital is the Sun" referiert Michel Serres. Der französische Philosoph hat in "Der Parasit" die Sonne als energetischen Horizont des Menschen und als ultimatives Kapital charakterisiert.
Den fünf Kuratoren, deren Projekt von der Neuen Gesellschaft nach einem - wie immer - basisdemokratischen Prozess angenommen wurde, kommt es jedoch auf den Begriff "Metabolismus" an.
Bonaventure: "Es geht weniger um die Sonne und auch weniger um Biologie, sondern eher um Wechsel."
Matteo Pasquinelli: "What we want to do is the explosion of the notion of metabolism."
Bonaventure: "Wenn man etymologisch in das Wort reinschaut, geht es um eine Umwandlung. Natürlich gibt es dieses Phänomen in der Biologie, aber das gibt es im Leben im Allgemeinen."
Elene Agudio:"We where very interested since the beginning about the metaphor of metabolism as a strategy."
Tja. Eine Ausstellung, deren Kuratoren "Metabolismus" als Metapher verstehen und diese Metapher als Strategie für post-anthropozentrische Denkpraxis anwenden, wie sie sagen... eine derart abstrakt angelegte Ausstellung könnte viele Namen haben. "Metamorphosen" zum Beispiel. Oder "Veränderung". Oder oder oder.
Auch lässt sich kaum ein Kunstwerk vorstellen, das in gar keinem Aspekt mit "Metabolismus" als Metapher zu tun hätte.
Graben zwischen Konzept und Kunst
Dorothee Albrecht, ebenfalls Kuratorin:
"Es wurde noch nicht wirklich gesagt, dass Metabolismus auf Deutsch Stoffwechsel heißt. Und dass Metabolismus vor allem über diese Transformationsprozesse auch zu greifen ist. Eigentlich heißt das Wort 'transformieren', 'umstürzen', 'verändern'. Wir leben nun tatsächlich einfach in dieser Zeit, wo man das Gefühl hat als Subjekt, dass die großen Veränderungsprozesse zu komplex sind, dass man irgendwie in einer Form die noch greifen kann."
So oder so: Der Graben zwischen Konzept und Kunst ist sichtbar. Im Katalog kann man sich in Beatriz Preciados hippen Essay "Sex, Drogen und Biopolitik im 'Pharmakologisch-Pornografischen' Zeitalter" vertiefen und die Therapie zwischen Patient O. und einem Bohrturm verfolgen.
Es ist jene Sorte Text, von der Kunstkritiker Boris Groys sagte: Sie soll nichts erklären, sondern die Kunstwerke in ihrer Eigenart schützen. Und diese Eigenarten gibt es.
Der Chinese Sun Xun führt in einem Schwarz-weiß-Video, in dem er traditionelle Holzschnitte und Zeichnungen verfilmt, eine rasende, absolut finstere Dystopie über individuelle und gesellschaftliche Umstürze vor. Der geöffnete Schädel, die zahnbohrende Schlagbohrmaschine, die Spritze in der Haut - hier wird man richtig fest angepackt.
Dann wieder etwas ganz anderes: Clemens von Wedemeyers Projekt "Sun Cinema" - ein Freiluftkino im türkischen Mardin nahe der syrischen Grenze, mitten im ausgedörrten Bergland.
Clemens von Wedemeyer: "Herausgekommen ist ein Kino, das mit der Sonne in Verbindung steht. Tagsüber spielt die Sonne mit dem Kino als Skulptur. Das heißt, es ist ein Spiegel hinter der Leinwand. Nachts können dann Filme gezeigt werden. Sodass dort ein neuer Ort entstanden ist, wo sich Leute treffen und eben die Sonne in Kontakt tritt mit künstlichem Licht - nachts dann, wenn Filme gezeigt werden. Und ja, das Kino im Grunde auch mit dem Scheinwerfer, eine Form von erzählerischer Sonne sein kann und etwas Kultisches hat."
In Berlin kann Wedemeyer "Sun Cinema" nur dokumentieren - per Modell, Foto und Film. Metabolistisch betrachtet, wirkt aber auch die Dokumentation genuin künstlerisch. Man merkt, wie der starke Kontext Kunst Objekte und Materialien verstoffwechselt.
Platons Höhlengleichnis als Inspiration
Still, intim, rätselhaft, poetisch: "Natural Disaster" von Anne Duk - eine Installation aus Sonnenblumen, Lampen-Armen und Leuchtdioden. Man sieht Schatten wie Scherenschnitte. Und richtig! Da ist eine berühmte Geschichte im Spiel.
Anne Duk: "Ich bin von Platon, von dem Höhlengleichnis ausgegangen. Die Höhlenbewohner haben sich quasi immer nur ihrem Schatten hingewandt und das war quasi deren Wirklichkeit. Und so ist es auch mit diesem Scherenschnitt, den man hier sieht. Aber alles ganz offen gelegt."
Am Boden stiften hunderte vergoldete Bleistifte von Pedro Barateiro Ordnung oder Unordnung; die komplexen Wand-Diagramme Ricardo Basbaums korrespondieren mit der Kommunikation in Körperzellen; die Fotos von Pratchaya Phintong zeigen, wie noch entlegenste Ereignisse in planetarische Zusammenhänge rücken.
Dass jedoch der Zusammenhang der Kunstwerke von "Metabolismus" gestiftet werden soll, bleibt eine labile These. Aber nun! Das begleitende Symposion "Der Metabolismus des sozialen Gehirns" im Oktober mag mehr Aufklärung schaffen.