Konzept der Konzeptlosigkeit
Der französische Professor für Philosophie und Sinologie François Jullien vergleicht in seinem Buch "Vom Nähren des Lebens. Abseits vom Glück" fernöstliche Philosophien und die westliche Postmoderne. Er erklärt die Konzepte des Taoismus und spricht sich für eine grundlegende Änderung der westlichen Denkweiseaus. Für Esoterik hingegen ist bei Jullien kein Platz.
Der Franzose François Jullien ist anders als in seinem Heimatland hierzulande erst einem kleineren Kreis von Bewunderern bekannt, obwohl mit dem Essay "Sein Leben nähren. Abseits vom Glück" nun ein volles Dutzend Bücher auf Deutsch vorliegen.
Es geht dem Philosophen und Sinologen um nichts weniger, als um eine fundamentale Revision des westlichen Denkens aus der Perspektive der chinesischen Weisheitslehren. Ein Projekt für Esoteriker?
Für den Standortwechsel des Denkens bringt Jullien zunächst gute, aktuelle Gründe vor:
"Nach der Dekonstruktion und der Postmoderne ist dies meiner Meinung nach die heutige Agenda: die spezifischen Fragen der Philosophie überprüfen, aber von Gebieten aus, die außerhalb von ihr liegen."
Ganz bewusst hat sich Jullien, Jahrgang 1951, schon als Student deshalb für das Studium des Chinesischen entschieden, weil er sich die Grundlage für sein gewagtes denkerisches Programm erarbeiten wollte. Das Chinesische und die chinesische Philosophie schien ihm der weitestmögliche Abstand zur abendländischen Tradition. Weiter sogar als das Sanskrit, das ja durch das "Indogermanische" sprachliche Wurzeln mit dem europäischen Kulturraum teilt.
Für Esoterik bleibt in diesem ehrgeizigen Programm kein Platz. Julliens Bücher lesen sich ebenso präzise wie leidenschaftlich, und sind, zwischen den Zeilen, immer auch bezogen auf die prekäre politische Konstellation im Reich der Mitte.
Julliens Projekt ist eine "Dekonstruktion von außen". "Denn von innen (von unserer Tradition aus) durchgeführt, droht sie fehlzuschlagen." So werden Analogien zwischen östlicher Philosophie und Postmoderne sichtbar: Kategorien wie Gott, Seele, Subjekt gibt es in China nicht nur nicht, sondern sie werden, das ist Julliens These, gleichsam weggedacht.
Vor diesem Hintergrund hinge die Postmoderne im luftleeren Raum, wenn sie sich nur darauf beschränkte, Brüche und Risse in der europäischen Tradition aufzuzeigen, und sich nicht auf ein Terrain einließe, in dem gerade das Nicht-Gedachte oft als große Idee gelten muss.
Jullien liefert auf 200 Seiten eine minutiöse Lektüre einiger Kapitel des klassischen Weisheitswerkes "Das wahre Buch vom südlichen Blütenland" des Philosophen Zhuangzi (4. Jahrhundert vor Christus.) und eines Textes des bei uns unbekannteren Xi Kang (4. Jahrhundert nach Christus). Xi Kang bezieht sich auf Zhuangzi mit seiner Abhandlung "Vom Nähren des Lebens" und entwickelt ein Konzept des "langen Lebens".
Philosophie ist das gute "Nähren des Lebens". Jullien erklärt, gut verständlich auch für Noch-Nichtkenner der taoistischen Literatur, das Konzept von der Konzeptlosigkeit der weisen Welthaltung, von der Nicht-Getrenntheit von Physis und Lebenskraft, von "Atem und Wirbelsäule".
Aber: Was man gemeinhin Esoterik nennt, ist ihm ein Gräuel.
"Es ist höchste Zeit ein solches Denken des Atems, der Harmonie und des ‚Nährens’ aus diesem Pseudo-Wissen rauszuholen und es in den Bereich der philosophischen Reflexion zu integrieren, indem man seine Kohärenz zeigt."
Will man die Postmoderne auch als Globalisierungsprojekt beschreiben, müssten laut Jullien deren Risiken dringend ausbalanciert werden durch eine Kenntnisnahme des Komplementären, eben des Fernöstlichen, und zwar auf einer mehr als therapeutischen Ebene.
Auf die Postmoderne, auf die "neuere Abkehr von der Produktion und Förderung eines Sinns im Westen sieht man heute allein seine massive Wiederaufladung durch eine primäre Rückkehr zum Religiösen, eine Rückkehr zur Frage des Bösen, Rückkehr zu Gott".
Die Philosophie hingegen muss ihre "eigenen anthropologischen Grundentscheidungen in Frage stellen, indem sie sich auf die kulturellen Entscheidungen anderer Zivilisationen stützt" ohne sich durch eine "billige Exotik zerfressen zu lassen".
François Julliens Werk verdient eine breite Resonanz, denn es ist höchste Zeit die "Lehre der Leere" des Taoismus und die "philosophische Praxis" des Zen jenseits orientalistischer Phantasmen als Weisheitslehren zu verstehen: um das Eigenste zu sondieren und, neu synthetisiert, möglicherweise wieder schätzen und leben zu lernen.
François Jullien: Sein Leben nähren. Abseits vom Glück.
Aus dem Französischen von Ronald Voullié
Merve, Berlin 2006
218 Seiten, 18 Euro
Es geht dem Philosophen und Sinologen um nichts weniger, als um eine fundamentale Revision des westlichen Denkens aus der Perspektive der chinesischen Weisheitslehren. Ein Projekt für Esoteriker?
Für den Standortwechsel des Denkens bringt Jullien zunächst gute, aktuelle Gründe vor:
"Nach der Dekonstruktion und der Postmoderne ist dies meiner Meinung nach die heutige Agenda: die spezifischen Fragen der Philosophie überprüfen, aber von Gebieten aus, die außerhalb von ihr liegen."
Ganz bewusst hat sich Jullien, Jahrgang 1951, schon als Student deshalb für das Studium des Chinesischen entschieden, weil er sich die Grundlage für sein gewagtes denkerisches Programm erarbeiten wollte. Das Chinesische und die chinesische Philosophie schien ihm der weitestmögliche Abstand zur abendländischen Tradition. Weiter sogar als das Sanskrit, das ja durch das "Indogermanische" sprachliche Wurzeln mit dem europäischen Kulturraum teilt.
Für Esoterik bleibt in diesem ehrgeizigen Programm kein Platz. Julliens Bücher lesen sich ebenso präzise wie leidenschaftlich, und sind, zwischen den Zeilen, immer auch bezogen auf die prekäre politische Konstellation im Reich der Mitte.
Julliens Projekt ist eine "Dekonstruktion von außen". "Denn von innen (von unserer Tradition aus) durchgeführt, droht sie fehlzuschlagen." So werden Analogien zwischen östlicher Philosophie und Postmoderne sichtbar: Kategorien wie Gott, Seele, Subjekt gibt es in China nicht nur nicht, sondern sie werden, das ist Julliens These, gleichsam weggedacht.
Vor diesem Hintergrund hinge die Postmoderne im luftleeren Raum, wenn sie sich nur darauf beschränkte, Brüche und Risse in der europäischen Tradition aufzuzeigen, und sich nicht auf ein Terrain einließe, in dem gerade das Nicht-Gedachte oft als große Idee gelten muss.
Jullien liefert auf 200 Seiten eine minutiöse Lektüre einiger Kapitel des klassischen Weisheitswerkes "Das wahre Buch vom südlichen Blütenland" des Philosophen Zhuangzi (4. Jahrhundert vor Christus.) und eines Textes des bei uns unbekannteren Xi Kang (4. Jahrhundert nach Christus). Xi Kang bezieht sich auf Zhuangzi mit seiner Abhandlung "Vom Nähren des Lebens" und entwickelt ein Konzept des "langen Lebens".
Philosophie ist das gute "Nähren des Lebens". Jullien erklärt, gut verständlich auch für Noch-Nichtkenner der taoistischen Literatur, das Konzept von der Konzeptlosigkeit der weisen Welthaltung, von der Nicht-Getrenntheit von Physis und Lebenskraft, von "Atem und Wirbelsäule".
Aber: Was man gemeinhin Esoterik nennt, ist ihm ein Gräuel.
"Es ist höchste Zeit ein solches Denken des Atems, der Harmonie und des ‚Nährens’ aus diesem Pseudo-Wissen rauszuholen und es in den Bereich der philosophischen Reflexion zu integrieren, indem man seine Kohärenz zeigt."
Will man die Postmoderne auch als Globalisierungsprojekt beschreiben, müssten laut Jullien deren Risiken dringend ausbalanciert werden durch eine Kenntnisnahme des Komplementären, eben des Fernöstlichen, und zwar auf einer mehr als therapeutischen Ebene.
Auf die Postmoderne, auf die "neuere Abkehr von der Produktion und Förderung eines Sinns im Westen sieht man heute allein seine massive Wiederaufladung durch eine primäre Rückkehr zum Religiösen, eine Rückkehr zur Frage des Bösen, Rückkehr zu Gott".
Die Philosophie hingegen muss ihre "eigenen anthropologischen Grundentscheidungen in Frage stellen, indem sie sich auf die kulturellen Entscheidungen anderer Zivilisationen stützt" ohne sich durch eine "billige Exotik zerfressen zu lassen".
François Julliens Werk verdient eine breite Resonanz, denn es ist höchste Zeit die "Lehre der Leere" des Taoismus und die "philosophische Praxis" des Zen jenseits orientalistischer Phantasmen als Weisheitslehren zu verstehen: um das Eigenste zu sondieren und, neu synthetisiert, möglicherweise wieder schätzen und leben zu lernen.
François Jullien: Sein Leben nähren. Abseits vom Glück.
Aus dem Französischen von Ronald Voullié
Merve, Berlin 2006
218 Seiten, 18 Euro