Kontrapunkte

Von Volker Michael |
15 Jahre nach der Vereinigung dominieren Autoren und Regisseure mit DDR-Ausbildung die Film- und Theaterszene in Deutschland. Im Bereich der Musik sieht das anders aus. Wie die Teilung und Vereinigung Deutschlands auf das Musik- und Konzertwesen wirkte, diskutierten namhafte Dirigenten, Komponisten, Wissenschaftler auf einer Tagung auf Schloss Liebenberg bei Berlin.
Die Atmosphäre gleicht der bei einem Klassentreffen, wenn alte Matadoren der west- und ostdeutschen Musikwelt aufeinander treffen. Zum Beispiel Kurt Sanderling und Hans Pischner.

Sanderling gilt als einer der größten deutschen Dirigenten des 20. Jahrhunderts. Mit seinen 93 Jahren überblickt er das ganze Jahrhundert. 1960 kam er aus Leningrad nach Berlin zurück, aus dem er – der ostpreußische Jude – 1933 vertrieben worden war. Ein Mann aus dem DDR-Kulturministerium hatte ihn eingeladen, ein damals junges Orchester, das Berliner Sinfonie Orchester zu leiten. Eben jener Hans Pischner, ein Musiker, Musikmanager und zwanzig Jahre lang Intendant der Staatsoper unter den Linden.

Öffentliche Auftritte von Kurt Sanderling sind heute äußerst selten. Der geistig und körperlich rege, leicht gebeugte Mann schont sein Gedächtnis und gibt Erinnerungen nur wohldosiert preis. In der DDR hätten ihn, den renommierten Dirigenten, vor allem einige namhafte Komponisten bedrängt, nicht aber die Funktionäre von Staat und Partei…

"Mit mir konnten sie nicht so umspringen, weil ich auch in den Köpfen der höheren Politiker ein gewisses PRAE hatte: Jemand, der ein Vierteljahrhundert Sowjetunion überstanden hat, der kann ja so ganz arg nicht sein."

Ältere Herren neigen zum Pessimismus und zum Geschichtenerzählen. Doch alle Anekdoten, die Kurt Sanderling, Hans Pischner und die vergleichsweise jüngeren Kollegen wiedergaben, zeigten einen wahren allgemeingültigen Kern. Kulturelle Projekte konnte man nur durch ein geschicktes Spiel auf der Klaviatur der Machtstrukturen zustande bringen - so erinnert sich Hans Pischner an seine Zeit als Kulturpolitiker und Intendant. Ignorante Bürokraten und Ideologen musste er bisweilen gegeneinander ausspielen. Das sei kein Akt des Widerstands gewesen, sagt er. Es sollte nur gute Kunst möglich machen. Auf eine frühe Leistung kann Hans Pischner heute noch stolz sein – die Erinnerung daran wirkt brisant und aktuell…

"Ich bin der Meinung: Das war meine Erfahrung aus meiner Zeit, als ich die Volksmusikschulen in der DDR aufbaute, ein Riesennetz, und die Schulkonzerte, die unentgeltlich waren. Die Investitionen für kulturelle Betreuung und Aktivität von Jugendlichen, die würde sich viel mehr auszahlen als das, was man nachher für Sozialeinrichtungen ausgibt - das kostet alles viel mehr nachher."

Nur wenige westdeutsche Komponisten ließen ihre Werke in der DDR aufführen. Ein besonderes Ereignis fand beispielsweise 1968 in Meißen statt. Der Essener Komponist Wolfgang Hufschmidt hatte anlässlich des 1000-jährigen Bestehens des Meißener Doms ein Tedeum auf Worte von Martin Luther und Günter Grass verfasst. Der Grasssche Text provozierte den SED-Staat wie die Kirche gleichermaßen. Trotzdem wurde das Werk in Meißen aufgeführt. In der DDR gab das vielen Künstlern Mut, in der BRD nahm kaum jemand Notiz von diesem Ereignis. Der Komponist verglich nun in Liebenberg sein Jubiläumswerk mit den aktuellen Feiern zur Einweihung der Dresdner Frauenkirche. Damals sei kritische Kunst eher möglich gewesen, meint er:

"Ich fürchte, dass gerade weil die Kirche damals mit dem Rücken zur Wand stand, dem Staat gegenüber, dass das ihr eine bestimmte Kraft gegeben hat, so was zuzulassen. Während das, was ich so mitgekriegt habe von der Frauenkirche – das ist ja ein bemerkenswertes Unterfangen, das ist gar keine Frage – aber ich kann mir kaum vorstellen, dass dafür Platz gewesen wäre, also für diese Art von Infragestellung von kirchlicher Tradition."

Das Meißener Tedeum von Wolfgang Hufschmidt lebt bis heute fort – für das nächste Jahr ist eine Aufführung anlässlich der Dresdner Musikfestspiele geplant. Doch die meisten anderen Komponisten klagen, ihre Musik werde nicht mehr gespielt. Vor allem den ostdeutschen Künstlern sind die verlässlichen Partner verloren gegangen, weil Orchester aufgelöst, Theater geschlossen und viele Entscheiderpositionen mit Nicht-Ostdeutschen besetzt wurden.

Viele Künstler fühlen sich in der neuen Bundesrepublik in einem kulturellen Niemandsland. Der bekannte Dirigent Peter Gülke, der 1983 aus politischen und persönlichen Gründen von Weimar in den Westen ging, hat Verständnis für diese Orientierungsschwierigkeiten…

"Die Hochschätzung, die Einordnung kultureller Belange hat nicht nur damit zu tun gehabt, dass sie ideologisiert war und dass sie als ein Mittel benutzt worden ist - das ist sie auch. Aber dahinter – und das werde ich nicht müde zu betonen – besteht auch eine sehr positive Tradition, eben die Tradition der Wertschätzung des Kulturellen Erbes, wie sie etwa in der Arbeiterbildungsbewegung eine Rolle gespielt hat, oder denken Sie an die große Rolle, die Lektüre und Musik etwa bei den Russen gespielt hat. Deswegen war zum Beispiel in der DDR die Schamschwelle gegenüber Kürzungen im Kulturbereich enorm hoch im Vergleich zu jetzt."

Vor allem westdeutsche Kulturschaffende neigen dazu, die Bedeutung, die einem Musikwerk oder einer Opern- und Theaterpremiere in der DDR beigemessen wurde, zu verklären. Der langjährige Leiter der Westberliner Festspiele, Ulrich Eckhardt, sprach davon, dass kulturelle Vermittlung und Bildung in der DDR in die Breite gewirkt habe. Zugang zu Kultur war keine Frage von Geld: Kultur konnten sich alle Bürger leisten, sowohl aktiv wie auch passiv. Doch ist dadurch bei ihnen ein unzerstörbares Grundbedürfnis nach Kultur entstanden? Dann müsste jetzt mit der Regierung Merkel/Platzeck und dem Cellominister Tiefensee das kulturelle Paradies beginnen. Der Komponist Georg Katzer dämpft diesen Optimismus.

"Wenn wir von der Sozialisation in der DDR sprechen und aus der jetzt führende Politiker auch stammen. Man kann ja nicht sagen, dass das nun wirklich alle betroffen hat. Die beiden Spitzenpolitiker, die aus dem Osten kommen, haben ja einen anderen Entwicklungsweg, das sind ja Naturwissenschaftler. Da ist das Kulturbedürfnis vielleicht nicht ganz so stark ausgeprägt."

Über die Musikkultur Westdeutschlands wurde in Liebenberg kaum gesprochen. Das lag zunächst an den fehlenden Zeitzeugen. Aber auch daran, dass sich westdeutsche Musikheroen wie Stockhausen, Kagel, Henze und andere nie sonderlich um den Osten gekümmert haben. Sie sind dort mit Nichtachtung bestraft worden. Vielleicht ist die deutsche Musikwelt bis heute stärker geteilt, als viele wahrhaben wollen. Aber zum Glück gibt es ja die neuen ostdeutschen Erfolgreichen in der Popmusik wie "Silbermond" und "Tokio Hotel" - diese jungen Leute profitieren eindeutig vom ehemals guten Musikbildungssystem in der DDR.
Blick auf das Gutshaus und die Dorfkirche in Liebenberg im brandenburgischen Oberhavelland
Blick auf das Gutshaus und die Dorfkirche in Liebenberg im Jahr 1996 (vor der Restaurierung).© AP Archiv