Kontinuität in der Repression

Von Benno Müchler · 16.04.2013
In dieser Woche finden in Äthiopien Kommunalwahlen statt. Aber die Demokratie ist dort nur Fassade. Girma Seifu, der einzige Oppositionspolitiker im Parlament, kann das bezeugen - und hat trotzdem Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Zehntausende Menschen stehen auf dem Zentralplatz der Hauptstadt Addis Abeba. Sie schwenken grün-gelb-rote Nationalfahnen mit dem goldenen Stern auf blauem Grund, viele weinen. Die Beerdigung des verstorbenen Premierministers, Meles Zenawi, ist eine der größten Veranstaltungen, die Äthiopien jemals gesehen hat.

Die Präsidenten von Südafrika, Ruanda, Sudan und Südsudan sind gekommen. Auch enge Freunde und Verbündete aus dem Westen. Deutschland und Amerika sind vertreten. Für die USA sprach Susan Rice, die frühere Afrika-Beauftragte unter Bill Clinton und heutige Botschafterin bei den Vereinten Nationen:

"Im Namen von Präsident Obama, der Regierung der Vereinigten Staaten und des amerikanischen Volkes, möchte ich unser tiefstes Beileid und Mitgefühl nach dem zu frühen Ableben von Premierminister Zenawi ausdrücken."

Zu diesem Zeitpunkt, im vergangenen September, stand Äthiopiens neuer Premierminister bereits fest. Es würde Hailemariam Desalegn werden, der ehemalige Außenminister und Vize-Premier. Viele sahen in dem Neuen zunächst eine kleine Chance auf Wandel. Anders als Zenawi ist Hailemariam kein Mann von Zenawis Minderheit aus Nord-Äthiopien, mit der Zenawi die wichtigsten Stellen im Staat besetzte. Auch kämpfte Hailemariam nicht im Busch; er ist Akademiker. Und er gehört als Protestant nicht zur Äthiopisch-Orthodoxen Kirche, zu der sich rund 50 Prozent der Bevölkerung bekennen und die seit Jahrhunderten eine mächtige Rolle im Staat Äthiopien spielt.

Tatsächlich nährte die neue Regierung in den ersten Wochen im Amt die Hoffnung auf Wandel. Sie nahm Verhandlungen mit einer Rebellengruppe auf und ließ zwei schwedische Journalisten frei, die versucht hatten, über Menschenrechtsverletzungen zu berichten.

Als der neue Premier während dieser Wochen vor dem Parlament auftrat, stellte ihm ein Abgeordneter die Frage:

"Die Regierung hat jüngst einen Dialog mit einer Rebellengruppe begonnen. Warum nicht mit uns?"

Der Abgeordnete war Girma Seifu, der einzige Oppositionspolitiker im äthiopischen Parlament mit 547 Sitzen.

An einem Morgen im Januar steigt Seifu in seinen schwarzen Toyota Carina. Im Parlament muss heute die staatliche Metall- und Maschinenbaugesellschaft berichten. Ein Lieblingsthema für den studierten Volkswirt, der lange als Wirtschaftsprüfer arbeitete und im Parlament den Haushaltsausschuss leitet. Seine Partei, die Einheit für Demokratie und Gerechtigkeit, ist die größte von rund 30 Oppositionsparteien, von denen jedoch keine weitere im Parlament vertreten ist. Sie tritt für freie Marktwirtschaft ein und steht damit diametral der Regierung gegenüber.

Die Sonne scheint in den Wagen. Am Straßenrand sitzen Krüppel, hier und da Leprakranke mit Elefantenfüßen; dürre Männlein in Lumpen wanken auf Gehstöcken. Fünfzehnjährige Jungs warten vergeblich, jemandem die Schuhe putzen zu können. Es sei noch zu früh, den neuen Premierminister zu bewerten, sagt Seifu. Auch wenn Hailemariam ihm damals im Parlament ein klare Absage für Dialog erteilte, vielleicht habe der neue Premier ja doch eine eigene Vision und könne sich damit gegen die Clique aus Nord-Äthiopien in der Regierungspartei EPRDF durchsetzen:

"Ich hoffe, dass die EPRDF nicht für immer bleibt. Das ist möglich. Warum nicht?"

Ein Lastwagen verstopft die Straße. Er hat Akazienstämme geladen; die kommen aus dem Umland des kühlen spärlich besiedelten Hochlandes, wo die Menschen gewöhnlich in strohgedeckten Lehmhütten wohnen, zum Kochen Feuer benutzen und Wasser in gelben Kanistern entweder selber auf dem Rücken oder auf Eseln transportieren. In der Hauptstadt Addis Abeba werden die Baumstämme als Baugerüst für die immer neuen Gebäude dienen.

Äthiopien ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt, doch seit ein paar Jahren ist es auch eine der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften. Im Land werden Flughäfen, neue Straßen und ein Eisenbahnnetz gebaut. An vielen Ecken der Hauptstadt flimmern computer-animierte Werbespots auf großen LCD-Flachbildschirmen. Einer der beliebtesten Plätze unter Reichen ist eine Konditorei, wo man auf Designerstühlen aus schneeweißem Plastik amerikanische Napfkuchen und Brownies essen kann.

Seifu parkt seinen Wagen vor dem Parlament, ein weißes Gebäude mit einem Glockenturm, wo gerade Scharen von Menschen mit Aktentaschen in der Hand geschäftig hin und her laufen. Äthiopiens letzter Kaiser, Haile Selassie, ließ das Gebäude während seiner Herrschaft errichten. Er schuf die Kammer 1931. Wirklich Macht gab er ihr aber nie. Das taten auch nicht die kommunistischen Militärdiktatoren nach ihm, und auch nicht Meles Zenawi, der die Kommunisten Ende der 80er-Jahre stürzte:

"Ich glaube, es ist in Ordnung, einen Staatskonzern zu haben, der Großinvestitionen lenkt, insbesondere solche, die der Privatsektor nicht tragen kann wie die Produktion von Düngemitteln oder Dinge im Zusammenhang mit dem Verteidigungsministerium. Doch ich habe auch Bedenken, dass ein solcher Konzern eine magische, allmächtige Gesellschaft werden kann, die außerhalb unserer Kontrolle agiert und entgegen unserer Interessen."

Zweieinhalb Stunden dauert die Sitzung, als Seifu seine Frage stellt. Viele der Abgeordneten hängen ermattet auf den Rängen, manche dösen. Es sind Frauen mal mit, mal ohne Kopftuch. Große, pechschwarze Männer, und kleine, bärtige mit hellerem Hautton. Seit jeher steht und fällt die Macht in Äthiopien mit dem Zusammenhalt des Vielvölkerstaats, in dem es über 80 Volksgruppen gibt. Zenawi gelang das durch seinen 'ethnischen Föderalismus', mit dem er die verschiedenen Gruppen politisch integrierte. Das stärkere Mittel war jedoch stets sein alles durchdringender Militär- und Sicherheitsstaat. Äthiopien besitzt eine der größten Armeen Afrikas, die sich hier nicht nur auf die Verteidigung beschränkt. Dem Militär gehört so unter anderem auch die staatliche Maschinenbaugesellschaft, die neben Panzern und Raketen auch Traktoren für die Landwirtschaft, Autos und Kraftwerke baut. Ihr Leiter, der Vortragende an diesem Tag, ist ein Brigadegeneral. Vor seinem Pult, an dem auch der Parlamentspräsident sitzt, lehnt (es stand auf dem Boden, und lehnte gegen das Pult) das lebensgroße Foto von Meles Zenawi:

"Um auf die Frage des ehrenvollen Herrn Girma Seifus über unsere magische Gesellschaft zu antworten, lassen Sie mich das Sprichwort benutzen: 'Ein einzelner Finger ist dem Leprakranken sehr wertvoll.' Unserem Land würden ein paar mehr Konzerne wie der unsere gut tun."

Ein Lachen geht durch die Reihen, und noch eines, als das Parlamentsfernsehen für alle sichtbar auf einem Bildschirm Girma Seifu zeigt. Der hat gelangweilt den Kopf auf seine Hand gestützt und sitzt verlassen vorne links im Saal. Seine Sitznachbarn rechts von ihm haben an diesem Tag anderes zu tun.

Seifu wurde 2010 ins Parlament gewählt, als die Regierung in DDR-Manier 99 Prozent aller Stimmen auf sich vereinte. Alle Wahlkreise, bis auf einen, gingen an die Regierung und die mit ihr verbündeten Parteien. Wie gelang Seifu in seinem Kreis bloß der Sieg?

"Sie dachten, es würde keinen Unterschied machen. Wäre unser Wahlbezirk für das Ergebnis wichtig gewesen, sie hätten sich auch ihn geholt. Doch gegen Wahlende, riefen sie sich gegenseitig an und als sie sahen, dass alles gut ging, ließen sie uns ziehen und verminderten den Druck."

Seifus jüngste Schwester, Tiruzer, leitete damals seinen Wahlkampf. Es brauchte einige Zeit, um sie zum Mitmachen zu überzeugen, erzählt sie in Seifus spärlich eingerichteten Abgeordnetenbüro, das im zweiten Stock einer Markthalle, neben einem Friseursalon liegt. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite küssen Passanten die Wand einer orthodoxen Kirche. Männer sitzen in Cafés und schlürfen äthiopischen Kaffee aus kleinen Porzellanbechern. Als die Regierung bei den Parlamentswahlen 2005 gegen die Opposition verlor, dann die Ergebnisse jedoch fälschen ließ, die Opposition einsperrte und Demonstranten niederknüppelte, verlor Seifus Schwester wie viele andere den Glauben an den Wert ihrer Stimme. Girma Seifu jedoch, gab nicht auf. Das beeindruckte die Schwester und motiviert sie bis heute:
"Wenn sich mehr Leute wie wir engagierten, würden wir auch mehr solcher Ergebnisse wie das unsere einfahren."

Girma Seifu war das älteste von neun Kindern einer Familie in Addis Abeba. Das Elternhaus war nicht größer als manches Wohnzimmer in Deutschland.

Die Mutter war eine Marktfrau, der Girma oft half, ihre Säcke zum Stand zu tragen. Sein Vater arbeitet noch heute als Schneider und war politisch interessiert. Als die Kommunisten Äthiopien mit Terror regierten, hörte der Vater heimlich Voice of America und den Amharischen Dienst der Deutschen Welle. Auch bekamen sie über Freunde bei der Äthiopischen Fluggesellschaft, das US-Magazin Newsweek und andere Zeitschriften ins Haus. So habe er das erste Mal ein Gefühl für Freiheit und Unrecht entwickelt, sagt Seifu. Äthiopien war noch niemals frei und demokratisch. Jahrhunderte lang herrschten Kaiser, dann übernahm eine Militärdiktatur, dann der Autokrat Zenawi. Seifu fragt sich, wie man in einem solchen Land apolitisch werden kann.

Der 46-Jährige hat heute seine eigene Familie: eine Frau, zwei Kinder. Natürlich haben sie alle Angst um ihn, aber sie seien auch stolz. Und Angst dürfe kein Grund sein, nicht das zu tun, was man von Herzen wolle, sagt Seifus Schwester Tiruzer:

"In Äthiopien gibt es ein Sprichwort: Du hörst doch nicht nur auf zu schlafen, bloß weil Du Alpträume hast."

194 Dollar netto im Monat als Abgeordnetendiät reichen nicht, um eine Familie durchzubringen. Seifu besitzt noch ein Gästehaus und arbeitet als Finanzberater. An einem Nachmittag steht der kleine Mann mit einem Schnauzbart in blauer Anzughose und einem gebügelten weißen Hemd, das von seinem Bauch ganz ausgefüllt wird, vor den Mitgliedern einer äthiopischen NGO, die sich für Waisenkinder und ehemalige Prostituierte engagiert. Die Vorsitzende ist Meseret Azage und gründete die NGO vor einem Jahr:

"Viele Leute, einschließlich meine Familie, rieten mir, nicht mit ihm zu arbeiten, alle hatten Angst. Sie sagten, die Regierung mag solche Dinge nicht. Sie werden dein Büro zumachen. Mit der Opposition bekommst du nur Schwierigkeiten."


Nicht weit vom Parlament, am Ende einer Schotterstraße, wo Frauen in Röcken grüne Rubbelkarten zum Aufladen von Handys, Bananen und Brause verkaufen, liegt die Zentrale von Seifus Partei, ein eckiger, hässlich verputzter Betonbau. Der Parteivorsitzende, Asrat Tassie, schätzt Seifus Offenheit; eine Schwäche sei vielleicht seine Unerfahrenheit als Politiker. Seifu ging erst 2004 in die Parteipolitik.

"Er sagt, was er denkt, was man insbesondere in unserer Kultur eher nicht tut, wenn derjenige, den es betrifft, anwesend ist."

Girma Wakjira Mekonnen, ein Parlamentskollege von der gegnerischen EPRDF-Partei, schätzt Seifu ebenso:

"Herr Girma Seifu ist eine wirklich vernünftige Person. Er hat seine Positionen, er ist kompromissbereit, er debattiert und er streitet für seine Ansichten. Er ist ein guter Parteistratege. Das bin ich auch. Girma ist auch immer sehr nett, wenn wir außerhalb des Parlaments zusammenarbeiten. Wir sind Kollegen, wir sind von ein- und demselben Volk. Uns trennt nichts Fundamentales; allein die Ideologie ist eine andere."

Herr Wakjira ist der Abgeordnete eines Wahlkreises in Addis Abeba, aus dem wohl eine der mit Abstand beliebtesten Politikerinnen Äthiopiens kommt: Birtukan Mideksa. Solche Köpfe wie sie sucht Seifus Partei derzeit.
Doch wie die meisten der ehemaligen Führer hat auch Mideksa Äthiopien verlassen. Sie war einst die Vorsitzende von Seifus Partei. Die Regierung sperrte sie nach den Wahlen 2005 für 18 Monate ins Gefängnis, kurz nach ihrer Freilassung erneut für 22 Monate. Sie verbrachte viele Monate in Einzelhaft, durfte nur ihre Mutter und ihre zwei Jahre alte Tochter sehen. Mit der Tochter lebt sie heute in einem grauen Apartmentkomplex bei Boston in den USA, arbeitet als Wissenschaftlerin an der Harvard-Universität und hält sich aus Parteipolitik heraus.

"Eine der Tragödien der politischen Entwicklung in Äthiopien der letzten zwei Jahrzehnte, insbesondere der letzten zehn Jahre, war, dass die Institutionen des Landes immer schwächer wurden und der verstorbene Premierminister alle Gewalten in seiner Hand vereinigte. Er war der Ideologe, der Ökonom, er war fähig, das Land mit exzessiver Unterdrückung zu beherrschen. Er hatte ein Monopol auf die Macht. In einem solchen politischen Umfeld ist politischer Übergang und Machtübertragung sehr schwer."

Ein anderer wichtiger Kopf ist Berhanu Nega, der ehemalige Bürgermeister von Addis Abeba. Es waren unter anderem seine Auftritte, die Seifu bewegten, in die Parteipolitik zu gehen. Auch Nega wurde nach den Wahlen eingesperrt, auch er ging nach Amerika, wo er die Oppositionsbewegung 'Ginbot 7' gründete, die nun auf der Terrorliste der äthiopischen Regierung steht, zusammen mit Al-Qaeda, den radikal-islamistischen Al-Shabaab-Milizen in Somalia und zwei äthiopischen Rebellenfronten. Nega wurde in Abwesenheit zum Tode verurteilt. All jene, die die Positionen von Ginbot 7 verbreiten, also auch Journalisten, können nach äthiopischem Gesetz bis zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt werden. Er glaube dennoch weiterhin an den Wandel in Äthiopien, sagt Nega während eines Interviews in seinem Geländewagen vor dem Hauptbahnhof von Washington D.C.

"Ich denke, letztlich wird der Wandel nicht kommen, weil es die Regierungspartei wünscht. Ich denke, es wird passieren, wenn das äthiopische Volk sagt, genug ist genug. Und nach meinem Gefühl, kommen wir diesem Moment immer näher."

Viele im mit über 80 Millionen Menschen zweitbevölkerungsreichsten Land Afrikas sind frustriert. Sie kommen bei der schnellen Entwicklung nicht mit, die Lebensmittelpreise steigen, die Gehälter nicht. Nach inoffiziellen Schätzungen liegt die Arbeitslosigkeit bei 40 Prozent. Korruption grassiert.

Trotz der aussichtslosen Lage blickt Girma Seifu optimistisch in die Zukunft. Aufgeben stehe außer Frage, Auswandern auch:

"Ich möchte dieses Land mit aufbauen. Ich möchte ein Land schaffen, auf das meine Kinder und andere stolz sein können. Ich will in meinem Land leben und sterben. Ich habe mich noch nie für ein Visum für Amerika beworben. Noch nie. Ich will weder dort noch woanders hin. Ich will hier leben, denn ich habe Hoffnung in dieses Land."
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