Konserviertes Frischgemüse

Von Stefan Keim |
Eine junge Nonne hat immer den gleichen Tagesablauf. Mit demütigem Blick putzt sie Stühle, betet vor einem kleinen Altar, wäscht sich, isst Suppe. Sie ist allein im Zimmer, Musikeinspielungen geben ihr Signale, wann sie was zu tun hat. Aus einem großen Regal holt sie Schachteln. Darin findet sie Wasser, Tütensuppen und alte Zeitschriften, aus denen sie Bilder ausschneidet und auf ihren Altar klebt.
Damit sie fit bleibt für die flüssige Wiederholung der Bewegungen, macht die Nonne Übungen, eine skurrile Aerobic für Gottesdienerinnen. Das Stück "Worm-Hole" - Wurmloch -erinnert an Beckett und Ionesco. Die Engländerin Niki McCretton erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die ihr Leben ganz einem Regelsystem unterworfen hat.

McCretton: " Ich bin römisch-katholisch aufgewachsen. Einige der Fragen im Stück sind meine. Aber Religion ist auch eine interessante Parallele zum Alltagsleben. Da gibt es Routine und Deadlines. Viele müssen ihre Gefühle beiseite legen, um die Arbeit getan zu kriegen. Die Religion in meinem Stück ist genau so etwas. Diese Nonne ist zwar gläubig, aber sie steckt auch in einem sehr engen Korsett, das sie unglücklich macht …"

Die junge Nonne beginnt, die Routine in Frage zu stellen. Sie hat Angst und erlebt Rückschläge. Schließlich befreit sie sich, wirft die Klostertracht ab, verlässt die Bühne, öffnet die Plane des Theaterzeltes und geht nach draußen, in die glühende Sonne des Nachmittags, zurück ins Leben. "Worm-Hole" war der Höhepunkt des ersten Wochenendes beim Fringe-Festival in Recklinghausen, 70 Minuten intensives, berührendes und witziges Körpertheater.

McCretton: "Ich glaube, das ist so entstanden, weil ich seit einigen Jahren solo arbeite. Es ist etwas seltsam zu reden, wenn niemand sonst da ist. Gut manchmal brabbele ich vor mich hin, wenn ich allein im Zimmer bin. Aber "Wormhole" braucht einfach keine Worte … "

Mehr Worte braucht "Filotas”, ein junger Feldherr, den seine Feinde gefangen genommen haben. Auch das Fringe-Festival leistet einen Beitrag zum Lessing-Schwerpunkt der Ruhrfestspiele. Der Hamburger Regisseur Vontobel kombiniert Lessings Einakter mit der realen Geschichte des amerikanischen John Walker Lindh und lässt die Figur von einer Frau spielen. Viel Verfremdung, viel Denkarbeit - aber ein spannender, politischer Theaterabend.

Das Fringe-Festival soll zusammen mit einer Reihe von Uraufführungen die kreative Ecke der Ruhrfestspiele sein. Im großen Haus setzt Intendant Frank Hoffmann auf populäre Stücke und bekannte Stars. Er muss Geld einspielen, das Defizit vom Vorjahr darf sich nicht wiederholen. Und es klappt, das große Haus ist immer voll. Die kleinen Reihen geraten dabei ins Hintertreffen. Die Uraufführungen sind ebenso wie das Fringe-Festival bisher schlecht besucht. Das könnte aber auch an einigen Stücken liegen. Eine tschechische Produktion über die Frage, was passiert, wenn der Fernseher kaputt geht, ist eine ziemlich biedere Angelegenheit. Und auch die viel versprechend "Le bordel" betitelte Nachtvorstellung ist ganz brav, lieb und pointenfrei.

"Verrucht, charmant und abgetakelt. Jaha, so sind wir. Ich bin stolz auf uns. Meine Damen und Herren, madames et messieurs, ladies and gentlemen. Willkommen in meinem Puff." "

Die junge Schweizerin Vanja Arzner steht in Strapsen und Korsett mit wechselnden Boas vor dem Publikum. Und wirkt wie eine höhere Tochter, die mal so tut, als sei sie ganz verdorben.

Ein Fringe-Festival verlangt risikofreudige Zuschauer. Dass man auch mal seltsame Dinge zu sehen bekommt, liegt in der Natur der Sache. Aber in Recklinghausen wird nicht experimentiert. Die Aufführungen sind zum größten Teil mehrere Jahre alt. Das angekündigte "Frischgemüse des europäischen Theaters" besteht aus Konservenbüchsen. Die Hitze am Eröffnungswochenende brachte auch Probleme, das nicht klimatisierte Theaterzelt wurde zur stickigen Sauna. Doch wahre Fringe-Schauspieler kann so etwas nicht schockieren. Niki McCretton erzählt, sie habe schon einmal in Kanada nur vor einer Handvoll Leute gespielt.

McCretton: "Es ist sehr intim. Nach einer Aufführung in Kanada kam eine kleine, alte Dame zu mir und sagte, sie haben die Geschichte meines Lebens gespielt. Wenn ein Mensch im Publikum ist, den ich so erreichen kann, bin ich glücklich …"
Service:

Das Fringe Festival läuft noch bis 5. Juni. Besondere Empfehlung: Worm-Hole von Niki McCretton am Dienstag, 31. Mai um 18.30 Uhr im Theaterzelt neben dem Festspielhaus Recklinghausen. Karten: 02361-92180. Internet: Ruhrfestspiele