Konsens, Küche, Kapelle und Kasse

Von Kirsten Dietrich · 17.12.2011
Die verfassten Kirchen in Deutschland ringen um Strukturen, Mitglieder und neue Perspektiven für die Zukunft. Das kommunitäre Leben dagegen boomt: Weniger verbindlich als ein Kloster, wesentlich intensiver als die normale Mitgliedschaft in der Ortsgemeinde, gründen sich überall neue Gemeinschaften von Menschen, die ihren Glauben gemeinsam mit anderen leben wollen.
"Also, ich war als Jugendliche einmal in Taizé und ich denke, das war der erste Impuls für mich, mich überhaupt mit Gemeinschaftsleben auseinanderzusetzen. Das zieht sich dann durchs Leben, aber Taizé, denke ich, ist so ein Ankerpunkt oder Leuchtturm, den man sieht und wo auch immer wieder Impulse kommen."

"Und es ist auch einfach schön, einen Rahmen zu haben für das alltägliche Leben. Ich finde es wunderbar, wenn das Frühstück einen liturgischen Rahmen hat und nicht einfach nur die Zeitung und dann steht man auf und geht."

"Ich habe immer ein verbindliches Christsein leben wollen. Das war zu DDR-Zeiten nicht so möglich, wie ich mir das gedacht habe. Deswegen habe ich nach meinem Ruhestand das angestrebt, ich bin in Altersteilzeit gegangen, um hier am Aufbau der Kommunität mitzuwirken."

Die Grenzen, wann eine Lebensgemeinschaft auch eine geistliche Gemeinschaft wird, sind fließend. Als Leitlinie für einen Streifzug durchs kommunitäre Leben soll deshalb eine Definition von vier Grundelementen dienen, die aus dem ökumenischen Laurentius-Konvent stammt: Konsens, Küche, Kapelle und Kasse machen demnach eine Kommunität aus. Erste Station also: Konsens. Ein Besuch im brandenburgischen Städtchen Joachimsthal, eine gute Stunde nördlich von Berlin, in der Kommunität Grimnitz.

"Herr, wir danken dir in dieser Abendstunde, dass du uns verliehen hast, unter deinem Schutz diesen Tag zu vollenden"

"Also morgens und abends zusammenzukommen und zu beten oder auch einfach innezuhalten, das hilft, durchs Leben zu tragen."

"Bin vor 14 Jahren hierhergekommen, mit einer Gruppe von jungen Theologinnen und Theologen, die hatten alle das zweite theologische Examen, die die Landeskirche damals nicht haben wollte, weil sie sie nicht bezahlen konnte. Und deswegen war das im Ursprung eine Theologen-Selbsthilfegruppe."

Der pensionierte Pfarrer Claus-Dieter Schulze lebt mit sechs anderen Mitgliedern in einem liebevoll sanierten Haus mitten im alten Ortskern von Joachimsthal. Martina Wieland ist seit zwei Jahren mit Mann und Sohn dabei.

"Unser Sohn ist ein normaler Teenager von 16 Jahren, der mit dem Ganzen hier nicht viel am Hut hat, der aber so tolerant ist, dass er sagt, ich nehme meine Eltern so an, wie sie sind, und wir sind so tolerant und sagen, wir lassen ihn so sein, wie er ist, und dann geht es."

Der Tag beginnt in der Kommunität Grimnitz mit einem gemeinsamen Gebet um 8 Uhr morgens, er endet mit der Andacht um 21 Uhr. Dazwischen liegen nach Möglichkeit gemeinsame Mahlzeiten, die Betreuung von Gästen - und vor allem viel politisches Engagement.

"Wir fühlen uns verpflichtet dem Konziliaren Prozess, also Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung, und in diesen drei Säulen versuchen wir auch, die runterzubrechen in den Alltag."

"Das geht nicht ohne Konflikte, wir haben einen ziemlich schweren Konflikt hinter uns, und das ist eine besondere Bewährungsprobe gerade auch unseres christlichen Glaubens. Es ging dabei um die Frage, wie wir unser Anwesen beheizen, der liegt lange hinter uns, das haben wir geschafft."

Konsens zu finden in einer Gemeinschaft politischer und christlicher Überzeugungstäter - das ist auch bei scheinbar ganz alltäglichen Problemen eine Herausforderung. Für Hans-Jürgen Fischbeck bewährt sich dabei die geistliche Dimension des gemeinschaftlichen Lebens.

"Was sich für mich auf jeden Fall geändert hat, so, dass ich es auch wirklich bejahe, ist, dass das Gebet, so wie wir es vor allem in den Abendandachten pflegen, zugleich eine Anrede Gottes ist, aber auch der anderen Schwestern und Brüder unserer Kommunität. Da kann man den anderen etwas sagen, was man zugleich auch an Gott richten kann."

"Das ist eine empfindliche Frage, es darf keine Diskussion werden, manchmal sind wir da ein bisschen abgeglitten in dieser Hinsicht, aber im Grunde finde ich, wenn wir uns abends sagen, was hat uns heute besonders bewegt und dann aus dieser Mitteilung heraus ein Gebet an Gott richten, indem wir eine Kerze anzünden, dann geschieht etwas von dem, was Jesus gesagt hat: 'Wo zwei oder drei oder vier oder fünf oder sechs in meinem Namen beisammen sind, da bin ich mitten unter ihnen', das, glaube ich, wird schon irgendwie spürbar."

Vom Ringen um Konsens nun in die Küche. Quasi im Hinterhof der DDR-Prachtbauten in der Frankfurter Allee in Berlin hat die Gemeinschaft "Brot des Lebens" ihre Küche. Und natürlich auch eine Kirche, denn "Brot des Lebens" ist eine katholische Gemeinschaft und neben dem Leben mit den Armen der eucharistischen Anbetung verpflichtet.

"Das kontemplative Leben, das Leben aus Gebet, aber ganz nahe bei Menschen. Mich haben immer Mauern ein Stückchen weit abgeschreckt, und das hab ich in 'Brot des Lebens' gefunden, das Suchen eines Lebens im Gebet, aber bei den Menschen."

20 Jahre schon leben Wolfgang Willcke und seine Frau in der Gemeinschaft "Brot des Lebens". An der Frankfurter Allee leben sie seit sieben Jahren, inzwischen nur noch mit drei ihrer vier Kinder, die Größte ist ausgezogen. Sie teilen sich den einfachen Flachbau mit einigen geweihten Schwestern, drei zur Gemeinschaft gehörenden Männern und zur Zeit vier Obdachlosen. Ihnen bietet "Brot des Lebens" Unterkunft für die Nacht, dafür wurde im großen Küchen-, Ess- und Wohnzimmer ein Bereich für einfache Betten abgetrennt.

"Wir sagen, jemand, der hier mitlebt - nicht die ganz Schwachen, die direkt von der Straße kommen, weil die das ein Stückchen nicht können, die Sachen - mindestens auch für Nichtgemeinschaftsmitglieder - eine Gebetszeit am Tag und eine Mahlzeit am Tag, die man zusammen haben sollte."

In der großen Küche steht ein riesiger Holztisch, 14 Stühle haben um ihn Platz. Politisch diskutiert wird in der Gemeinschaft am Frankfurter Tor nicht so viel. Dazu sind die Kräfte zwischen den einzelnen Mitgliedern zu unterschiedlich verteilt. Echtes Zusammenleben mit Obdachlosen und radikale Gütergemeinschaft sind eine ausreichende Herausforderung für alle Mitglieder, sagt Wolfgang Willcke.

"Wenn ich versuche, auch in dem, der es nicht schafft, hier eine Nacht trocken zu bleiben, den ich dann vielleicht, um das Miteinander hier zu ermöglichen, wieder auf die Straße setzen muss, weil ich hier einfach aufgrund der Kinder, aufgrund anderer, keine Drogen oder keinen Alkohol dulden kann, wenn ich versuche, ihn in seiner Würde zu sehen und versuche, äußerlich oder zumindest innerlich ein Stückchen weit mitzugehen, dann bin ich auf einer Beziehungsebene."

Unter der Küche liegt der Andachtsraum, noch im original 70er-Jahre-Design aus DDR-Zeiten, denn auch damals lebte schon eine geistliche Gemeinschaft im Haus. Wenn sie dort die Messe feiern, erscheinen die Mitglieder von "Brot des Lebens" wirklich als eine Gemeinschaft von Gleichen - trotz aller sozialen Unterschiede.

"Aber natürlich bin ich jemand, der versucht hat, ein einfaches Leben zu wählen, ich bin nicht reingeschmissen worden, das ist vielleicht der größte Unterschied, es steckt eine Entscheidung dahinter, es steckt eine Wahl dahinter."

Tapfer bläst der Heizlüfter gegen die Abendkälte in der Hüttenkirche der Weggemeinschaft "Solentiname in Berlin" - ursprünglich war die Kapelle der Schuppen der gemeinsam gemieteten zwei Wohnungen in Berlin-Friedrichshagen, direkt am Müggelsee. Nach dem Umbau findet sich vorne ein Kreuz, hinten Bücherregale voller Bibeln und russischer Romane.

"Also, interessant war ja unser Hausbesitzer, als wir ihm das zeigten, ein bisschen noch schüchtern, als wir fertig waren mit dem Renovieren, als das Kreuz dann da stand und ein kleiner Tisch als Altar, dann kam er raus und sagte, völlig verklärt: Wenn das meine Oma wüsste!"

Die eigene Kapelle musste sein, auch wenn sie ursprünglich gar nicht geplant war. Eine Erfahrung, die Elfriede Teresa Begrich mit anderen Kommunitäten teilt. Begrich arbeitete als Pfarrerin am Erfurter Augustinerkloster, ehe sie nach Berlin kam.

"Ich habe gedacht, ich würde im Ruhestand gerne Kirche noch einmal so leben, wie ich mir das immer gewünscht habe."

Vier Menschen gehören zur Gemeinschaft: Begrich, ihr Mann, eine Studentin und Katharina Schridde. Sie ist eigentlich festes Mitglied der evangelisch-benediktinischen Communität Casteller Ring.

"Es ist überhaupt eine Frage, die grad durch Klöster und Kommunitäten geht, welche Lebensformen sind möglicherweise gerade für die Zukunft interessant, gerade für Menschen, die sich nicht mehr auf Lebenszeit binden wollen, gerade für Menschen, die keinen christlichen Hintergrund mehr haben, da habe ich gesagt: Ich würde gerne ein Experiment beginnen. Nämlich in unserer neuen, kleinen geistlichen Weggemeinschaft jetzt zu schauen, wie geht das, wenn wir als kleine Gruppe noch mal zurückgehen auf die Basis kommunitären Lebens, ohne, und das ist der entscheidende Unterschied - ohne verbindliche und festlegende Formen der Zugehörigkeit."

Täglich lesen und besprechen die Mitglieder einen Abschnitt der Bibel, einmal die Woche feiern sie Gottesdienst. Das Miteinander ist - darauf verweist schon der Name der Gemeinschaft - geprägt von der befreiungstheologischen Genossenschaft Solentiname in Nicaragua, die in den 70er und 80er-Jahren auch in Deutschland sehr bekannt wurde.

"Wir feiern hier immer Abendmahl, aber den Teil der Predigt, den machen wir zusammen. Als Gespräch. Kommt viel mehr bei raus."

Nach dem Gottesdienst versammeln sich dann Mitglieder und Gäste um den Tisch in einer der gemeinsamen Wohnungen. Noch dominieren die Pfarrerinnen, aber das wird sich ändern, hofft Katharina Schridde.

"Es werden die Formen, die versuchen, eine möglichst alltagspraktische Form und eine möglichst für Menschen, die auch keine christliche Sozialisation haben und sich vor allem auch nicht auf Lebenszeit binden wollen, für Gruppen also, die solche Formen suchen, die werden wichtiger werden. In der Kirche, im geistlichen Leben, im christlichen Leben, weil sie flexibler sind."

Antje Heider-Rottwilm ist sozusagen Profi im kommunitären Leben. 21 Jahre lang lebte sie mit Mann und Kindern in einer Hausgemeinschaft des Laurentius-Konvents. Aus beruflichen Gründen verließ sie das Haus, erst zum Ruhestand wollte sie zurückkehren.

"2006, im Sommer sprach nach einer Kirchenkonferenz in Berlin mich eine Kollegin aus Hamburg an und sagte, in Hamburg gibt es ein wunderschönes Projekt in einem neuentstehenden Stadtteil, aber wenn wir nicht die ökumenische Gemeinschaft finden, die das mit Leben füllt, dann versandet das im wahrsten Sinne des Wortes. Du gehörst doch zu einer ökumenischen Gemeinschaft, wär das nichts für euch?"

Nun lebt Antje Heider-Rottwilm in einer provisorischen Wohnung in der Hafencity mit drei anderen Mitgliedern der alten Kommunität und hält tägliche Andachten in einer provisorischen Kapelle. Nur an ihrem Auftrag ist nichts provisorisch:

"Wir brauchen Menschen, die dann da leben, denn solch eine Präsenz, die kann man nicht machen, indem man Stundenpläne macht, welche Kirche da wann präsent ist. Das, was wir auch innovativ einbringen wollen, ist auch noch mal, dass da Menschen leben, die Ökumene leben, die den Alltag teilen, die auch einen bestimmten Lebensstil in den Stadtteil reinbringen, und die sich im Stadtteil als Nachbarn, als Mitlebende engagieren, dass es ein menschenfreundlicher Stadtteil wird, in dem die Präsenz Gottes spürbar ist."

Die Hamburger Kirchen haben eine mutige Entscheidung getroffen, findet Antje Heider-Rottwilm. Insgesamt 17 Kirchen, von evangelischer und katholischer bis hin zu Methodisten, Mennoniten und der dänischen Seemannskirche, bauen zusammen ein siebenstöckiges Haus für die "Brücke - Ökumenisches Forum in der Hafencity" und stellen 100.000 Euro Jahresetat zur Verfügung. Interessenten für das gemeinsame Leben gibt es mehr als genug.

"Und dann hat sich ergeben, dadurch, dass wir schon hier sind, dass sie immer gefragt haben: Können wir nicht mit euch zusammenwohnen, das gehört doch eigentlich zu euch, zum Konvent, dass ihr in Hausgemeinschaften wohnt, dass wir tatsächlich nun in vier Etagen im Haus einziehen - das sind 2.400 Quadratmeter."

Das einzige Problem könnten - Stichwort: Kasse - die hohen Mieten vor Ort werden. Christus im Himmel wohl bedachte, wie er uns reich und selig machte - in der Hafencity bekommen diese Worte einen besonderen Beigeschmack. Die Kapelle steht genau auf der Grenze: auf der einen Seite noch Baugruben, auf der anderen Seite schon die Hochhäuser mit Konzernzentralen und schicken Apartments.

"Wir erleben immer wieder, dass der Stadtteil von außen sehr viel glatter, perfekter, reicher und unnahbarer wirkt, als es sich darstellt, wenn man hier mittendrin lebt. Ich finde, als Kirche haben wir gerade die Aufgabe, hinter die Kulissen zu gucken und die Menschen zu sehen, mit ihren Wünschen und Träumen."

Konsens, Küche, Kapelle, Kasse - Kommunitäten finden vielfältige Wege, diese Grundkonstanten in gemeinschaftliches Leben zu übersetzen. Was sie eint: Ihre Spiritualität ist geprägt vom gemeinsamen Gebet. Und ihr Verhältnis zur institutionellen Kirche ist ambivalent, man ist beides: Gegenentwurf und Vorbild.

""Wenn wir in die Geschichte der Kirche reinschauen, dann waren es in Umbruchszeiten immer Orden, Kommunitäten, Einsiedlergemeinschaften, die ein Stück weit der Kirche neue Wege aufgezeigt haben oder neue Impulse gegeben haben."

"Intern, als kleine Gruppierung, leben wir solidarisch, aber dies hineinzutragen als einen Appell und auch als einen Anfang, dass solidarische Existenz auch in der Gemeinde wirklich werden kann, das ist unser Anliegen, unsere Hoffnung auch."

"Wir haben überhaupt keinen Raum, größer zu werden. Unser Schuppen ist richtig klein, wenn da zehn Leute drin stehen, dann ist es da drin voll. Aber ich weiß, dass sie in Taizé auch gesagt haben: Mehr als sieben werden wir nie, und was draus geworden, wissen wir jetzt."
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