Konkurrenz für den Norden

Von Markus Rimmele · 17.11.2010
Guangzhou hat innerhalb von drei Jahrzehnten einen beeindruckenden Aufstieg erlebt und schickt sich an, Peking und Shanghai Konkurrenz zu machen. In der Metropole, in der der höchste Fernsehturm der Welt in den Himmel ragt, ist man besonders stolz darauf, die eigene kulturelle Identität zu bewahren.
Wer die Shoppingmall durch den Nordeingang betritt, steht erst einmal auf dem hawaiianischen Palmenplatz. Plastikbäume gruppieren sich hier um einen Springbrunnen, aus dem immer wieder eine Wasserfontäne hochschießt. Manche Besucher fotografieren das. Dahinter öffnet sich der Blick in das zentrale Atrium, eine schwindelerregend hohe Halle. Ringsherum winden sich zehn Stockwerke nach oben, voller Geschäfte, Restaurants, Schönheitssalons. Das Grandview in Guangzhou ist die größte moderne Shoppingmall in China, sagen die Betreiber. Jeden Tag kommen bis zu 250.000 Menschen hierher.

"Früher war das bebaute Stadtgebiet noch sehr klein. Hier wo jetzt die Shoppingmall steht, war mal alles Ackerland. Hier wurde viel Reis angebaut."

Zhang Zhigang spricht nicht von fernen Zeiten, sondern von den Achtzigerjahren. Der 53-jährige sitzt behäbig in seinem offenen Büro ganz oben unterm Glasdach des Grandview, fast wie im Himmel. Er ist klein, etwas gedrungen, kahlköpfig. Sein Gesicht verrät Stolz - Stolz auf den Fortschritt seiner Stadt und Stolz auf seinen persönlichen Aufstieg. Zhang Zhigang ist der technische Direktor des Einkaufszentrums. Vor 34 Jahren kam er aus einem Dorf in den umliegenden Bergen herab nach Guangzhou, erzählt er in der lokalen Sprache kantonesisch.

"Nach dem Schulabschluss habe ich erst mal im Dorf als Bauer gearbeitet. Im Monat habe ich 3 Yuan verdient. So war das früher. Da gab es keine Hoffnung. Wir haben Reis angebaut und Gemüse, Schweine gehalten. Doch wir hatten nicht genug zu essen. Das war so wie in Afrika heute, in Kenia oder so. Was für ein Kontrast zu jetzt. Ich verdiene 15.000 Yuan, 1600 Euro. Und was ist aus Guangzhou geworden! Die ganze Stadt ist neu aufgebaut. Früher gab es nur Fahrradrikschas und ein paar Taxis. Heute haben wir U-Bahnen, Busse, Taxis, Privatautos. Ja, wir fahren unsere eigenen Autos! Diese Entwicklung hätte ich mir niemals träumen lassen, als ich noch Bauer war."

Es ist ein Lebenslauf, wie ihn viele Guangzhouer hinter sich haben. Hier unten am Perlfluss, ganz im Süden, begann einst am Ende der Siebzigerjahre das chinesische Wirtschaftswunder. Guangzhou lag von Anfang an mitten im Zentrum des Booms. Heute, nach drei Jahrzehnten, ist hier eine Metropole mit 12, vielleicht auch 14 Millionen Menschen entstanden, keiner weiß das genau. Vor den Stadttoren beginnt ein schier unendliches Meer von Fabriken. Sie erwirtschaften ein Drittel des chinesischen Exports. Guangzhou ist ein Wirtschaftsgigant, sagt Zhang Zhigang und lächelt dabei zufrieden.

"Wir hier in Guangzhou und Umgebung haben uns am schnellsten in China entwickelt. Es geht zwar noch nicht allen Menschen gut. Das wird aber noch. Ich blicke optimistisch und zuversichtlich in die Zukunft."

Guangzhou, fügt er hinzu, hat alles: eine moderne Exportwirtschaft, Kultur, internationale Anbindung. China braucht uns mehr, als wir China brauchen, raunt er bei der Verabschiedung. Und tatsächlich: Die Provinz Guangdong, deren Hauptstadt Guangzhou ist, würde auch allein gut dastehen. 100 Millionen Einwohner und ein größeres Bruttoinlandsprodukt als etwa Saudi-Arabien oder Argentinien.

Gleich vor dem Grandview führt ein Eingang hinab in die Guangzhouer U-Bahn. Die Zugänge, Rolltreppen und Bahnsteige sind zu schmal konzipiert für die Menschenmassen. Vor 13 Jahren eröffnete die erste U-Bahn-Linie in der Stadt, heute sind es schon acht Linien mit 120 Stationen. In 10 Jahren soll sich das Netz noch einmal fast verdreifacht haben. Büroangestellte, Schulmädchen in Uniform, Jugendliche mit Computerspielen in der Hand stehen dicht gedrängt. Das könnte Tokio sein oder Paris. Guangzhou ist nach Peking und Shanghai Chinas dritte große Metropole. Und doch ist der Name in Europa nur wenigen bekannt. Das hat mehrere Ursachen, sagt Jean-Pierre Cabestan, Politologe und China-Forscher an der Baptisten-Universität in Hongkong.

"Zunächst einmal gab es da diesen Namenswechsel. 400 Jahre lang war die Stadt in Europa als Kanton bekannt. Und jetzt sollen wir plötzlich Guangzhou sagen, was schwer auszusprechen und zu merken ist. Zweitens gibt es hier für Touristen nicht viel zu sehen, es ist kein traditionelles China. Guangzhou ist nicht sehr exotisch. Und dann ist Guangzhou so nah an Hongkong, da reisen viele lieber gleich dorthin. Guangzhou ist einfach nicht so ansprechend."

Mit der Linie 3 sind es nur ein paar Stopps bis zum Bahnhof Kecun. Hier ist die Fahrt zu Ende. Von der Hauptstraße oben führt eine Abzweigung in einen überdachten Markt mit Gemüseständen. Durch den Hinterausgang geht es wieder hinaus auf ein Hofgelände. Dort versteckt befindet sich in einem schlichten Beton-Haus die Kunstgalerie Vitamin Creative Space.

Immer wieder dieselbe Szene, ein Raubüberfall, mal in Zeitlupe, mal in Zeitraffer. Die Musik ist lustig, die Video-Bilder dazu sind es nicht. Ein halbes Dutzend Männer umringen einen Passanten, halten ihn fest, nehmen ihm in wenigen Sekunden seine Wertsachen ab – und gehen ruhig weiter. Es ist eine authentische Aufnahme von einer Straße in Guangzhou. Huang Xiaopeng hat einen Videokunst-Film daraus gemacht. Chinas fröhliche Konsumgesellschaft – und ihre Schattenseiten von Gewalt und Raffgier. Huang ist Mitte 40, mager, schwarz gekleidet, mit kahlrasiertem Schädel. Er lehrt experimentelle Kunst an der Akademie in Guangzhou und stellt hier in der Galerie aus.

"Es ist komisch, aber eine Arbeit aus Guangdong erkennt man sofort. Die Pekinger Künstler etwa sind sehr politisch. Da sieht man immer irgendwo Tiananmen oder einen Mao, die großen Themen. Die Künstler in Guangzhou interessieren sich mehr für das Alltagsleben."

Guangzhou ist fast 2000 Kilometer von der Staatszentrale in Peking entfernt, dafür aber nur 130 vom liberalen Hongkong. Das Wetter ist subtropisch und das politische Klima etwas offener, sagt Huang. Das mache sich auch in der Kunst bemerkbar. Video, Installationen, Klang, Plakataktionen. Keiner in China habe moderne Kunstformen so schnell aufgenommen wie die Künstler des Südens. Eine kleine, aber feine Infrastruktur hat sich gebildet: Da sind private Kunstzentren, da sind Galerien. Und das Kunstmuseum in Guangzhou gilt als das progressivste staatliche Museum in China. Die lokalen Künstler machen oft gesellschaftliche Missstände zum Thema, das echte Leben. Alles Nationale, die Pekinger Politik oder ideologische Auseinandersetzungen – das ist nicht die Sache der Künstler hier. Guangzhou ist anders als der Rest Chinas, sagt Huang Xiaopeng.

"Die Stadt ist sehr modern. Sie hat die längste Geschichte der Öffnung zur Außenwelt in China. Vor hundert Jahren ging von dieser Region sogar die Revolution gegen das Kaisertum aus. Das hat eine gewisse Mentalität geschaffen, einen Lebensstil."

Guangzhou ist nicht im eigentlichen Sinne politisch aufmüpfig. Auch hier hat die Kommunistische Partei das öffentliche Leben fest im Griff. Doch das starke Regionalbewusstsein schafft Distanz zwischen der Provinz im Süden und der Zentrale. Und in der Distanz entstehen kleine Freiräume, in der Kunst, aber auch in den Medien, beschreibt Jean-Pierre Cabestan:

"Es gibt ein paar Publikationen in Guangdong, zum Beispiel die Zeitung Southern Weekend, die versuchen, die Zensurgrenze zu verschieben, die Medien mehr zu öffnen. Die Hauptstadt ist weit weg, der Kaiser ist weit weg. Es gibt tief verwurzelte Bestrebungen hier in Guangdong, immer so viel wie möglich herauszuholen und mehr Autonomie zu erlangen."

Diese Tradition gefällt dem Künstler Huang Xiaopeng. Er ist in Guangzhou geblieben, obwohl er in Peking vermutlich deutlich mehr Geld verdienen könnte.

"Die Region hier lag immer am Rande Chinas, geografisch und politisch. Ich hoffe, das bleibt auch so."

Schon von Weitem ist der Turm zu sehen. Als das Taxi auf die Brücke fährt, um den Perlfluss zu überqueren, ist der Blick plötzlich ganz freigegeben. Der Canton Tower. Guangzhous neues Wahrzeichen. Eigentlich nichts anderes als ein Fernsehturm steht er doch wie kein anderer der neuen Prestigebauten für den Aufstiegswillen der Stadt. Mit seinen 600 Metern ist er das zweithöchste Gebäude der Welt. Einen weiblichen Turm wollten sie bauen, sagen die niederländischen Architekten. Der Canton Tower hat eine Art Taille, verjüngt sich in der Mitte, öffnet sich nach oben wieder. Die ganze Struktur erscheint in sich gedreht. Das Taxi biegt rechts ab, passiert unzählige neue Bürotürme, gelangt schließlich zum ebenso neuen Opernhaus der Stararchitektin Zaha Hadid, rollt von hier immer weiter die ausgebauten mehrspurigen Verkehrsarterien entlang.

"Die Guangzhouer sind sehr stolz auf das, was aus ihrer Stadt geworden ist. Wir von außerhalb, wir arbeiten halt hier, leben hier. Aber wir fühlen uns wohl."

Der Taxifahrer heißt Ying Panyang, stammt aus der nördlichen Provinz Henan. Leute wie er gehören heute untrennbar zu Guangzhou. Er ist ein Wanderarbeiter. Fast die Hälfte der Bevölkerung Guangzhous sind Zugezogene aus anderen ärmeren Provinzen. Ying ist seit neun Jahren in der Stadt. Er wurde gut aufgenommen hier, sagt er. Er mag den Geist Guangzhous:

"Das Gute an Guangzhou ist: Egal woher man kommt, aus dem Norden oder Süden, egal von welchem Fluss oder welchem See, wer hier Talent hat, wird akzeptiert. Die Leute kümmern sich in erster Linie um ihr Geschäft. Und egal wie reich einer ist, niemand guckt neidisch. In anderen Gegenden Chinas sind sie neidisch, wenn einer Geld macht. Und wenn einer kein Geld macht, gucken sie auf ihn herab. In Guangzhou ist das nicht so."

Und das Wetter gefällt ihm auch sehr gut hier, sagt Ying Panyang. Immer warm, keine Winter. Das Taxi gleitet an zahlreichen Restaurants vorbei. Da sind die Fischlokale mit ihrer berühmten kantonesischen Küche. Doch es werden auch die Spezialitäten der verschiedensten chinesischen Provinzen angeboten, aus Hunan oder Sichuan, selbst mongolisches und afrikanisches Essen gibt es. Die Zuwanderer haben der südchinesischen Metropole ihren bleibenden Stempel aufgedrückt. Nicht allen gefällt das.

Jin Lei sitzt mit seinen Freunden bei Starbucks an einem Außentisch. Die drei kommen gerade von der Universität. Sie studieren Chemie. Wenn sie sich untereinander unterhalten, sprechen sie nicht die chinesische Hochsprache Mandarin, sondern kantonesisch, die Sprache der Provinz Guangdong. Die zentralistische Regierung bezeichnet kantonesisch als Dialekt, Linguisten jedoch sehen darin eine eigenständige chinesische Sprache. Ein Pekinger würde Jin Lei und seine Freunde nicht verstehen. Wenn Jin Lei den Satz sagt: "Guangzhou ist eine tolerante Stadt", klingt das auf Mandarin so.

Sagt er den gleichen Satz auf kantonesisch, hört er sich folgendermaßen an.

Jin Lei und seine Freunde sind Kantonesisch-Sprecher aus Überzeugung.

"Sogar Hongkong und Macau sprechen kantonesisch. Das sind internationale Städte. Aber der Ursprungsort der Sprache liegt hier in Guangzhou. Also müssen wir sie doch noch mehr schätzen."

Als einzige Provinz Chinas verfügt Guangdong über eigene Fernseh- und Radioprogramme in ihrer Lokalsprache. Außerdem empfangen die Guangzhouer die Hongkonger Programme, die alle auf kantonesisch senden. Doch in den Schulen und im gesamten öffentlichen Leben dominiert – staatlich verordnet - Mandarin. Die Zuwanderung aus den mandarin-sprachigen Provinzen bringt die kantonesische Sprache noch zusätzlich unter Druck. Jin Leis Freund, der nicht namentlich genannt sein möchte, sieht die Zuwanderung mit Sorge:

"Wenn jemand ein Gast in Guangzhou ist, sollte er nicht die Sprache der Einheimischen ändern, nicht wahr? Es ist sehr wichtig, dass die Zugezogenen kantonesisch lernen."

Tonaufnahmen vom 25. Juli. Rund zweitausend Studenten demonstrieren in Guangzhou für den Schutz der kantonesischen Sprache, eine heikle Sache. Die Demonstration ist illegal. Jin Leis Freund ist mit dabei, wird nachher von der Polizei verhört.

"In China gibt es die Vorstellung: ein China, eine Sprache. Die haben viele Mittel, die Dialekte zu unterdrücken. Bei uns ging es im Sommer darum, dass die Kantonesische im Lokalfernsehen reduzieren wollten. Ich glaube, es ist Zeit, dass wir aufstehen und unsere Sprache schützen."

Die Demonstration wurde aufgelöst, das Kantonesische bislang aber im Fernsehen nicht angetastet. In Teilen der Guangzhouer Jugend hat sich am Streit um die kantonesische Sprache ein starker Lokalpatriotismus entzündet.

"Alles wird beseitigt, aber Kantonesisch darf nicht beseitigt werden!", so heißt ein Song, der online die Runde macht. Der Einsatz für die kantonesische Sprache hat sich von der Straße ins Internet verlagert, ist friedlich, kreativ, aber bestimmt.

Da ist er wieder, dieser Guangzhouer Drang nach Autonomie, dieses Gefühl, anders zu sein als der Rest des Landes.