Konfrontation mit der Geschichte

Von Jochen Stöckmann |
Das Jüdische Museum Berlin zeigt eine umfassende Ausstellung über das Gesamtwerk des Künstlers R.B. Kitaj nach dessen Tod 2007. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Massenmords an den Juden und die Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Außenseiters provozierten ihn zu einer jüdischen Kunst der Moderne.
Der Weg in den Bilderkosmos von Kitaj, diesem in vielerlei Hinsicht eigen- und einzigartigen Künstler, führt im Jüdischen Museum Berlin durch das Großfoto einer Bücherwand hindurch - mit gutem Grund, erklärt Kuratorin Margret Kampmeyer-Käding:

"Er ist ein frenetischer Büchersammler, er treibt sich in Antiquariaten rum und das Atelier liegt voll davon. Das heißt aber nicht, dass er alles tiefgründig gelesen hat: Kitaj ist jemand, der sehr schnell aufschnappt und für sich amalgamiert. Und er ist deshalb kein Analytiker."

Die Kunsttheorie hat er deswegen keinswegs verschmäht: Im Studium hatte sein Lehrer Edgar Wind den ehemaligen Matrosen und GI auf die Schriften Aby Warburgs hingewiesen. Diesen Bilderanalytiker verwandelt Kitaj 1959 in eine Frau, eine nackte, in fleischfarbenem Rosa gemalte Mänade, den Kopf in einen quadratischen Rahmen gezwängt.

Das Bild aus Privatbesitz wird in Berlin zum ersten Mal öffentlich ausgestellt. Und auch im Nachlass des Künstlers ist Kurator Eckhard Gillen fündig geworden, hat Bildvorlagen und Motive aus kunsthistorischen Fachblättern, aber auch aus der Alltags-, der Medienwelt quer durch die Ausstellung auf runden Tischen ausgebreitet:

Eckhard Gillen: "Es geht um Comics, es geht um Filme - er war ein Filmenthusiast - in den Bildkonstruktionen, etwa stills von Hitchcock. Er hat das alles aufgenommen, er hat die Welt entdeckt und neu buchstabiert."

Dazu gehört, dass die Art der Bildkonstruktion - sozusagen die Grammatik - sich fortlaufend ändert. Mit Montagen, Collagen und vor allem mit dem Aufeinanderprallen konzeptueller, graphisch schlichter Machart mit farbig expressiver, figurativer Malerei oder der Kombination von Lesefrüchten, also Textzitaten mit malerischen Bilderfindungen sorgt Kitaj für mehr als nur formale Abwechslung.

Eckhard Gillen: "Er liebt das Fragment, er liebt die Mischung der Kulturen, die er durch den Kopf strömen läßt und eigentlich im Kopf montiert. Er montiert hier noch in den Collagen ganz konkret, auf einer Holzplatte, aber dann läuft es durch den Kopf und das sind dann gemalte Montagen."

Darin geht es um den Mord an Rosa Luxemburg, den Widerstand der "Weißen Rose" gegen das Nazi-Regime oder den Vietnamkrieg. Das ist keine gemächliche "Aufarbeitung der Vergangenheit", wie es hierzulande heißt, sondern der aggressive Einbruch der Geschichte, auch der Geschichte des Holocaust, in die Gegenwart, die Existenz des Künstlers.

Selbst in der auf den ersten Blick konventionell anmutenden "Galerie der Charaktertypen", vor den Porträts eines Rabbiners oder einer anonymen Gestalt mit Batman-Maske, vom Experimentalfilmer Kenneth Anger oder von Isaiah Berlin, dem Philosophen und geistigen Mentor zeigt sich diese Skepsis, dieser tiefsitzende Zweifel an simplen Deutungsmustern und verkürzter Weltsicht.

Margret Kampmeyer-Käding: "Porträts sind nicht einfach nur Porträts, sondern sind Anlaß dafür, eine bestimmte Haltung zum Ausdruck zu bringen, etwa sein Freund David Hockney: das Bild wird betitelt "Der Neokubist". Oder seine Selbstporträts als Frau. Diese Ambiguität ist bei Kitaj von Anfang an angelegt."

Sich selbst stellt Kitaj als geschundenen, gehäuteten Marsyas dar, über Kopf - wie bei Georg Baselitz. In dessen Arbeiten oder auch bei Markus Lüpertz sah er eine "gute neue deutsche Malerei" - und folgerte, dass es auch eine "gute jüdische Kunst" geben könne und geben sollte. Darüber hat Kitaj bis zu seinem Freitod 2007 reflektiert, nicht zuletzt in seinem "Manifest des Diasporismus", entstanden aus der eigenen Erfahrung eines Lebens in heimischer Fremde, in den USA, England und Frankreich, zwischen Hafenkneipen, Bordellen und Kaffeehäusern.

Eckhard Gillen: "Er hat daraus den Schluss gezogen, das Leben in der Diaspora, in verschiedenen Kulturen, macht mich freier - offener und freier und mutiger. Es geht nicht um Nation, es geht nicht um Religion. Es geht darum, dass ich meine Heimat in der Bibliothek, in den Bildern finde und dass ich in den Bildern mir selber Auskunft gebe über mich."

Dabei ging es nicht um irgendeine "Identität" - diesen Begriff hielt Kitaj für eine euphemistische Umschreibung von Konformismus - sondern um schonungslose Selbstauskunft in all ihrer Widersprüchlichkeit, gipfelnd in einer großen Retrospektive 1994 in der Londoner Tate Gallery. Auf geist- und gefühllose Rezensenten, die das nicht erkennen wollten, reagierte der Künstler mit einem Gemälde, auf dem er bis an die Zähne bewaffnet einen dieser "Killer-Kritiker" umbringt.

Margret Kampmeyer-Käding: "Da bringt er alles auf, was er an Potential und an Kraft hat, an Aggression und auch an Allegorie: Er bietet die gesamte Kunstgeschichte auf, Manet wird zitiert und alle Literaten - und alle stehen sie hinter ihm, gegen die schnöde Kritik, die nichts versteht und die Künstler nicht begreift. Also: auch das Verhältnis ist ambivalent. Er ist letztlich doch ein Einsamer."

Ein Einsamer, der aber nicht allein bleibt nach dieser Ausstellung, die Kitajs Zerrissenheit im stärksten Sinne des Wortes nahebringt, seinen "Diasporismus" spürbar werden lässt - verstörend und erhellend zugleich.