Konfliktforscher Andreas Zick über Gewaltbereitschaft

"In vielen Kommunen entzünden sich Konflikte"

Leerstehende Bushaltestelle mit Graffiti Nazis Raus in Hoyerswerda Neustadt. 2009.
Von Rechts wie von Links hat die Gewaltbereitschaft zugenommen, konstatiert Konfliktforscher Andreas Zick. © imago/IPON
Andreas Zick im Gespräch mit Thorsten Jantschek · 12.01.2019
Journalisten werden für ihr Eintreten gegen Rechtsextremismus Shitstorms ausgesetzt und Rechtspopulisten gewalttägig angegriffen: Was ist mit unserer Gesellschaft los, die immer weniger Hemmungen vor Gewalt hat?
Die gesellschaftlichen und politischen Konflikte in Deutschland verschärfen sich und werden aggressiver. Die ZDF-Journalistin Nicole Diekmann wurde in dieser Woche von einem üblen rechten Shitstorm überzogen, weil sie "Nazis raus" getwittert hat . Fast zeitgleich wurde Frank Magnitz, Bundestagsabgeordneter und AfD Landesvorsitzende in Bremen, Opfer eines gewalttätigen Angriffs und dabei schwer verletzt.
Wie kommt es zu diesem Umkippen von Protest in Gewalt? Die Gesellschaft, so der Bielefelder Sozialpsychologe und Konfliktforscher Andreas Zick, radikalisiere sich, weil zunehmend Menschenfeindlichkeit, die sich auf bestimmte Gruppen, zum Beispiel Geflüchtete, richtet, salonfähig werde und am Ende sogar die Grundlagen der Demokratie bedrohe.
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Der Bielefelder Konfliktforscher Andreas Zick.© Uni Bielefeld

Der Sozialpsychologe Andreas Zick leitet das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld.

Deutschlandfunk Kultur: Werden die Konflikte in Deutschland zunehmend aggressiver ausgetragen?
Andreas Zick: Ja, aber wir müssen jetzt genau gucken, wie wir Aggressivität verstehen und woran wir das bemessen. Ich glaube, wir müssen auch raus kommen, das so sehr grob zu diskutieren. Nach dem Motto: Wird es alles schlimmer oder wird es alles besser? Weil, in Teilen wird eine Gesellschaft immer besser. Die Gesundheitsversorgung wird immer besser. Wir haben für Gewaltprävention bessere Maßnahmen als je zuvor.
Aber jetzt gehen wir mal in die Bereiche, die wir beforschen, nämlich die Frage: Wo entzünden sich gesellschaftliche Konflikte zwischen Gruppen so sehr, dass es in Gewalt kippt? Da wird es an Stellen in Deutschland doch tatsächlich schlechter. Wir haben eine Langzeitstudie, die heißt "Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit"…

Anstieg von Gewalt

Deutschlandfunk Kultur: ... mit Wilhelm Heitmeyer....
Zick: Genau, Wilhelm Heitmeyer war der Gründungsvater dieser Studie, mit einem großen Forschungsteam 2002 angefangen. Jetzt führe ich das weiter im Rahmen der Mitte-Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung. Und was wir schon beobachten in den letzten fünf Jahren in Teilen, in Milieus der Gesellschaft, wie zum Beispiel in rechtspopulistischen Milieus: da finden wir eine Radikalisierung, die darin besteht, dass es dort eine höhere Akzeptanz von Gewalt als Mittel zur Durchsetzung politischer Interessen gibt. Das ist nicht die Einstellungsebene.
Aber de facto gucken wir vorurteilsbasierte Hasstaten an. Und dann haben wir ansteigende Zahlen vor allen Dingen im Bereich der Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte oder Angriffe auf Amts- und Würdenträger: Wir haben ansteigende Zahlen gehabt in 2014, 2015, 2016, 2017. Da müssten wir zugleich die Zuwanderung beachten. Hat die eigentlich abgenommen? Damit müssen wir uns beschäftigen. Auf der Einstellungsebene haben wir Vorurteile, generalisierte negative Meinungen gegenüber Geflüchteten asylsuchenden Menschen. Zwischen 2014 und 2016 beobachten wir da signifikante Anstiege. In anderen Bereichen nimmt es dann wieder ab, wenn wir Vorurteilsmuster angucken. Insofern: Ja.
Auf dem Monitor einer Studiokamera ist Nicole Diekmann zu sehen. 
Nicole Diekmann, ZDF-Reporterin aus Berlin, hat mit einer Kurznachricht auf Twitter zunächst eine Welle des Hasses ausgelöst - und dann viel Solidarität bekommen.© dpa / Andreas Arnold
Ein zweites Problem kommt hinzu. Wenn wir heute gesellschaftliche Konflikte haben, sehen wir: in vielen Kommunen entzünden sich Konflikte zwischen zum Beispiel Gruppen, die gegen jede Form von Migration sind, weil da vielleicht ein Delikt passiert ist. Dann entzünden sich Konflikte zwischen pro- und anti-migrationsorientierten Gruppen. Diese Konflikte sind schwer regulierbar.
Und gleichzeitig gibt’s dann mehr Gewalt. Wir haben Gewaltsteigerung gegen Polizei. Wir haben Gewaltsteigerung gegen Sicherheitskräfte. Das heißt, die regulierenden Kräfte selbst erfahren das dann. Insofern ja, da ist die Gesellschaft polarisiert.
Deutschlandfunk Kultur: Lassen Sie uns mal die beiden Einzelfälle dieser Woche in den Blick nehmen, weil die so signifikant unterschiedlich sind, aber trotzdem irgendwas mit Hass zu tun haben, ohne die jetzt direkt zu vergleichen. Also, auf der einen Seite die ZDF-Reporterin Nicole Dieckmann, die aus einer Laune und aus einer politischen Einstellung natürlich heraus so um den Jahreswechsel twitterte: "Nazis raus!" Und auf die Frage, "wer sind denn eigentlich Nazis?", sagte sie ironisch, klar erkennbar für jeden: "Alle, die nicht die Grünen wählen." Und damit ist ein Shitstorm losgegangen mit Vergewaltigungsandrohungen, Mordandrohungen usw. – ganz schlimme Sache. Was passiert da eigentlich in den Sozialen Medien?

Gewalt im Netz

Zick: Bei dem Fall, wenn so ein Fall dann besonders auffällig wird, würde ich immer fragen: Was ist da eigentlich im Vorfeld passiert? So einen Shitstorm kriegen Sie eigentlich nicht hin, wenn nicht vorher schon – in dem Fall sind es dann viele sexistische Postings gewesen, da sind die alten Wutbilder wieder aufgetaucht – wenn es also nicht vorher schon eine Hassgemeinschaft gibt, eine Gemeinschaft der Hassenden, die ich mobilisieren kann, um dann fokussiert auf die Kollegin loszugehen, loszumarschieren.
Das heißt, im Vorfeld gibt’s eigentlich schon diese Hate-Communities. Und die sammeln sich und die sind hoch miteinander identifiziert. Wir haben so was Ähnliches erlebt bei Chemnitz: Mobilisierungspotenzial. Man bekommt das heute viel schneller auf die Straße. Man bekommt das heute schnell gegen eine Person gerichtet, weil man schon vorher mobilisierungsfähig war.
Da müssen wir also nach dem Vorfeld fragen. Man greift sie an, aber man mobilisiert nach innen – "Wir zeigen, dass wir noch da sind."
Und Diekmann ist auch prototypisch: Der Hass, der sich dann gegen sie richtet, der legitimiert sich dadurch, dass man ja eigentlich Opfer ist. Man wird beschimpft. Und da merken wir, es geht nicht nur um Wut und Aggressionen, die da sind, es geht um massive menschenfeindliche Bilder, auch über diese Journalistin. Und dann geht’s auch sehr deutlich darum, dass man selber massiv von diesem Viktimisierungsmythos angesteckt ist. Das haben wir in den letzten Jahren erlebt. Deswegen erleben wir eine Gewaltsteigerung auch deswegen, weil Gewalt legitim erscheint.

Keine Solidarisierung ohne Polarisierung

Deutschlandfunk Kultur: Umgekehrt ist es ja so, dass auch die Gegenseite sich mobilisiert dadurch hat, dass unendlich viele Leute genau dieses "Nazis raus", das ja eigentlich aus der Mode gekommen ist, heute würde man ja sagen, "Gegen Nazis", weil "Nazis raus" heißt ja: wohin sollen die denn kommen? Das hat ja eine Tradition, von "Juden raus" über "Ausländer raus" bis hin zu "Nazis raus" einfach immer fortgeschrieben wurde.
Teilnehmer der Kundgebung "Neukölln gegen Nazis" im Februar 2018. Sie wollen Solidarität mit den Betroffenen der Anschläge und Gewalttaten von Rechtsextremen zeigen, die sich im Bezirk Neukölln häufen.
Solidarität gegen Rechts: Demonstranten protestieren gegen Gewalttaten von Rechtsextremen im Berliner Bezirk Neukölln.© imago stock&people
Aber die Gegner haben das dann eben gepostet massenhaft, übrigens wir als Sender auch, wie viele andere auch "Nazis raus" getwittert haben. Und just ist genau der Shitstorm auch wieder bei uns angekommen. Bringt denn eigentlich so eine Art von Solidarisierung im Netz irgendwas? Oder polarisiert das noch weiter?
Zick: Sie kriegen eine Solidarisierung nicht ohne Polarisierung.
Deutschlandfunk Kultur: Innen, außen – wir, die anderen?

Auch die Zivilgesellschaft radikalisiert sich

Zick: Nein! Die Frage ist: Was ist die Zivilgesellschaft im Netz? Wenn sich Zivilgesellschaft bildet, solidarisiert über eine Auseinandersetzung mit populistischen oder extremistischen Angriffen, dann kriegen sie das nicht auf die weiche Art. Dann kriegen sie das nur in Polarisation.
Wesentlich aber jetzt ist: Zivilität entsteht da, wenn die Journalistin die Chance hat klarzumachen, in welchem Kontext sie eigentlich so eine Aktion macht. Erstens, indem wir begreifen, ob das jetzt eine persönliche Nachricht ist oder eine journalistische Nachricht. Und zweitens: Wie kann es dazu kommen, dass eine Journalistin aus etablierten Medien diese Karte zeigt, "Nazis raus".?
Wir haben doch gar nicht mehr die Zeit – und das macht uns zu schaffen bei der Konfliktregulation in den digitalen Medien – zu verstehen, dass vielleicht so ein Posting, so eine Nachricht das Ende einer massiven Kampagne ist – "Ausländer raus", "Merkel muss weg" usw.
Das Gleiche erleben wir in anderen Bereichen, wo wir noch nicht die große Radikalisierung erleben. Wir hatten ja auch erlebt so im Umfeld der AfD-Kampagne "Hol dir dein Volk zurück". Wie reagiert man darauf? Was bedeutet das jetzt für eine Zivilgesellschaft, digitale Zivilgesellschaft, die Normen von Inklusion, aber auch von Toleranz gegenüber anderen Meinungen hat? Was bedeutet das? Da radikalisieren sich auch Teile in der Zivilgesellschaft. Die haben schlichtweg die Nase voll.
Das ist ja auch die Botschaft gewesen: "Ich bringe es jetzt mal auf zwei Wörter", weil man die Nase voll davon hat und weil sich in Deutschland die Verhältnisse umkehren, dass Deutschland von der Norm getragen war: bevor wir entscheiden, wer hier in dieses Land gehört oder nicht gehört, gibt es bestimmte Grundrechte, die wir einhalten. Die werden nicht mehr eingehalten. Und dann kommt so eine Karte. Insofern erzählt uns das sehr viel über den Konflikt, den Zustand der Gesellschaft, aber auch die Unfähigkeit oder die Fähigkeit, so einen Konflikt zu regulieren.
22.11.2018, Berlin: Robert Habeck (Bündnis90/Grüne), Vorsitzender, macht während des Deutschen Arbeitgebertag 2018 ein Selfie mit einer Delegierten.
Grünen-Politiker Robert Habeck hat sich von Twitter verabschiedet.© dpa / Wolfgang Kumm
Deutschlandfunk Kultur: Die Zivilgesellschaft im Netz haben Sie angesprochen. Robert Habeck hat davon die Nase voll, weil er sagt: "Dieses Medium "Twitter" sei eigentlich zu polarisierend", wie Sie es eben gerade beschrieben haben, "aber es färbe eben auch auf ihn ab". – Ist das denn ein Bekenntnis gegen das Medium als Medium der Zivilgesellschaft?
Zick: Ja, das muss er so verstehen. Das Problem ist: Habeck ist ein Hybrid. Auf der einen Seite ist er Privatperson. Und Privates ist da in dem Twitter-Account gewesen.
Deutschlandfunk Kultur: Wie alles in Twitter.
Zick: Na ja, also, …
Deutschlandfunk Kultur: Oder das meiste.

Robert Habeck verlässt Twitter

Zick: Das meiste, genau. Also, es weist eigentlich daraufhin, vielleicht hätte man sich schon noch einmal Gedanken machen müssen. Für mich zeigt es auch, wie wenig Gedanken wir uns machen. Das mag in der Politik jetzt automatisch sein, aber wir machen uns wenig Gedanken, wie wir da eigentlich kommunizieren. Also: Wenn man mal einmal durchspielt, was Kommunikation ist und wie Kommunikation funktioniert, wie sind wir dann so naiv und denken, dass das Absetzen einer Botschaft auch tatsächlich als Botschaft ankommt?
Das Problem ist ja hier, wir haben zwei Botschaften von Habeck. Die eine ist eine private und die andere, die wir lesen, weil, wir unterhalten uns jetzt über sein Verhalten, ist natürlich, wir sehen ihn eben als Repräsentanten einer politischen Gruppierung mit politischen Meinungen in dem Twitter.
Und da entsteht natürlich jetzt ein Problem. Aufhören, nicht mehr kommunizieren das ist ja im Grunde genommen so das Letzte, was man machen kann. Und nach Paul Watzlawick wissen wir, dass man nicht nicht kommunizieren kann, so dass auch dies eine Kommunikation ist. Ich denke mir immer: Wer zwingt eigentlich deutsche Politikerinnen und Politiker dazu, zu twittern? Gehört das jetzt auch zum politischen Habitus, zum Professionsverständnis, dass man in Social-Media unterwegs ist als politische Person, die die Kommunikation nutzt? Aus der Kommunikation auszutreten, das ist nicht so einfach vermittelbar. Das wird Habeck mit Sicherheit jetzt auch merken.
Was jetzt deutlich wird, ist natürlich, dass die Unternehmen, die die Kommunikation für uns, in unserem Auftrag regulieren, ja gar kein Interesse haben an einer Regulation eines demokratischen Diskurses, sondern die haben erstmal Interesse an den Daten. Die nutzen die Daten. Und das Verwertungsinteresse ist kein demokratisches. Das Verwertungsinteresse ist kein politisches.

Der Opfermythos der AfD

Deutschlandfunk Kultur: Aber es lässt sich ja so schön politisch instrumentalisieren! Wenn wir jetzt auf den zweiten Fall kommen, Frank Magnitz. Unmittelbar nach diesem Attentat trat ein Bild in die Welt der sozialen Medien und hat sich sehr schnell und sehr weiträumig verbreitet, ein Schmerzensmann, ein schwer verletzter Mensch liegt auf einem Krankenhausbett mit einem Tuch über dem Leib. Da sind auch diese Näpfe dran, mit dem das EKG und so was genommen wird. Das Bild hat fast ikonischen Charakter und hat politische Wirkung. Und es wird auch, glaube ich, im Laufe des Jahres noch politische Wirkung entfalten, weil es nämlich benutzt wird – das wäre jetzt meine These – in ein bestimmtes Opfer-Narrativ unmittelbar, nahtlos eingefügt zu werden.
Zick: Ja, genau. Dieses Opfer-Narrativ ist ganz wesentlich. Wir denken ja auch, Magnitz hat das jetzt irgendwie unter Kontrolle. Nein, wenn ich befreundet wäre, wenn er Teil meines persönlichen Umfeldes wäre oder wenn er professionell sich psychologischen Rat geholt hätte bei mir, ich bin gelernter Psychologe, hätte ich gesagt: "Mach das nicht mit!" Weil, das ist natürlich auch persönlich. Wenn so ein Bild einer verletzten Person erscheint, das kann seine Familie tangieren. Ich kann das nicht nachvollziehen, dass man das macht. Das hat Konsequenzen. Da sind ja auch noch ganz andere Bilder entstanden. Das ist äußerst bedenklich. Aber es folgt natürlich auch neuen populistischen kommunikativen Mitteln. Und es folgt auch einer gesamtgesellschaftlichen Logik der Selbstinszenierung.
Frank Magnitz (MdB, AfD) auf dem Weg zur Fraktionssitzung der AfD-Bundestagsfraktion im Deutschen Bundestag.
Der Bremer AfD-Abgeordnete Frank Magnitz wurde Opfer eines Angriffs.© Deutschlandradio
Jedes einzelne kriminelle Delikt eines Menschen mit Migrationshintergrund oder eines Geflüchteten wird eingebettet in den Mythos vom "Deutschen Opfer" – jedes Mal! Ich weiß gar nicht, warum man so überrascht ist. Aber interessant ist auch, dass – jetzt in diesem Fall wird das ja gepostet vor allen Dingen von der Partei (AfD) – sie gar nicht kapieren, wie sehr sie da auch so in einer gesellschaftlichen Entwicklung der ständigen Inszenierung sind.
Der Opfermythos funktioniert, aber der Preis ist die Radikalisierung. Und die Radikalisierung besteht darin, dass nach der einen Opferinszenierung jetzt was anderes folgen muss.
Deutschlandfunk Kultur: Lassen Sie uns bei der Radikalisierung bleiben, bevor wir fragen, was dann folgen muss. Die Radikalisierung findet ja auch dadurch statt, dass jetzt ein AfD-Politiker Gegenstand von Gewalt geworden ist. Wie die AfD in letzter Zeit häufiger, allerdings war es letzte Woche war es in Döbeln in Sachsen, wo ein Sprengstoffattentat vor einem AfD-Büro stattfand. Jetzt ist es ein Mensch, der überfallen wurde, wir wissen immer noch nicht genau, wer der Täter ist, aber wir ahnen, dass es einen politischen Hintergrund hat, dass es einen linken politischen Hintergrund hat. So hat sich auch die Bremer Polizei geäußert.
Nun kann man ja sagen, der Rechtspopulismus und die rechte Mobilisierung und Radikalisierung ist das eine. Wie sieht es denn auf der Seite der Linken aus? Zum Beispiel: Der Extremismusforscher Eckhard Jesse hat kürzlich davor gewarnt, den Linksextremismus in Deutschland zu unterschätzen. Gewalt von links sei in den vergangenen Jahren immer geringer gewesen als die Gewalt von rechts, hat er gesagt.

Rechte und linke Gewalt

Zick: Ja. Und er nennt dabei aber auch Zahlen. Die beziehen sich auf die offiziellen Statistiken. Und er vergleicht dann zum Beispiel linksextreme Gewalt im Jahr 2017, die massiv vorhanden war, aber zu einem großen Ausmaß entstand durch die G20-Proteste und die Eskalation während G20 in Hamburg. Das heißt, eine Gewalt, die durch Gruppen entstanden ist, die dann massiv den Verfassungsschutzbericht beeinflusst hat. Alle Bürgerinnen und Bürger können den Verfassungsschutzbericht lesen und sich dann selbst die Frage stellen, ob da Linksextremismus herunter gespielt wird. Ich finde, nicht. Ich finde es falsch, so eine These in den Raum zu stellen, dass man jetzt auf dem linken Auge blind ist oder auf dem rechten Auge blind ist oder wie auch immer. Wesentlich ist: wir dürfen nicht Äpfel mit Birnen vermengen.
Es gibt die linksextreme Gewalt. Wir müssen versuchen, sie zu verstehen. Wir müssen die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten finden, also: welche Formen der Gewalt werden angewendet? Das bezieht sich auf Zahlen, die offiziell sind. Es bezieht sich auf Zahlen linksextremer Gewalt im Umfeld G20.
Gehen wir runter auf Gewaltformen wie zum Beispiel "Mordopfer extremistischer Gewalt", dann sehen wir Nähen zwischen islamistischen Anschlägen und rechtsextremen Anschlägen. Gehen wir auf die Frage von Gewalt vorteilsbasierter Hasstaten im Netz, dann finden Sie massive Unterschiede. Dort finden Sie massiv rechtsextreme Gewalt. Sie finden islamistische Gewalt, aber Sie finden fast keine linke Gewalt. Und jetzt würde ich erstmal die Gewaltform unterscheiden: Weil, für unsere Prävention ist erstmal wichtig, nicht die Frage zu stellen: Was ist schlimmer, sondern was gibt es da für Entwicklungen bei der Gewaltprävention? Was sind die Wurzeln? Was gibt es für Gewaltformen? Und dann kommen wir zu massiven Unterschieden.
Woher die Annahme kommt, dass wir Linksextremismus ausblenden oder nicht sehen würden, also, da hab ich keine Ahnung. Soweit ich weiß, ist die Ermittlungskommission bei den G20-Prozessen dabei, die linksextreme Gewalt dort zu analysieren, da gibt’s immer noch eine Gruppe von 175 Beamtinnen und Beamten, die zumindest recherchiert haben, in dieser Größe habe ich das kaum gesehen in den anderen Feldern. Es wird weiter gesucht, recherchiert. Richtig ist aber, und das ist die eigentlich wichtige Frage: Sehen wir jetzt linksextreme Gewalt, die zum Teil in ihrer Gewaltorientierung ähnliche Taten wie Rechtsextreme begehen, und dies infolge einer Eskalation von Konfliktkonstellationen?
Aber: Wir dürfen nie vergessen, dass nach Pegida bei allen Demonstrationen, die dort stattgefunden haben, Linke auch ganz massiv Gegner von rechtsextremen Gruppen und auch von rechtspopulistischen Gruppen sind. Das heißt, es liegt sehr nahe, dass wir linksextreme Gewalt sehen, weil genau diese Konfrontation und Polarisierung ganz auch bewusst aufgesucht wird. Also, da gibt’s eine Gewaltdynamik. Und noch ein weiteres: Sie werden heute kaum ein Bundesland finden, wo wir nicht Ausschreibungen haben, Modellprojekte, die sich gerade mit dem Linksextremismus auseinander zu setzen. Wir haben ja eine ganze Reihe auch von konservativen Landesregierungen, die das an ganz prominente Stelle stellen. Ich weiß, bei uns in Nordrhein-Westfalen hat es einen Regierungswechsel gegeben. Das Erste, was da erschienen ist, sich jetzt stärker um den Linksextremismus zu kümmern.

Wenn aus Protest Brutalität wird

Deutschlandfunk Kultur: Was heißt denn das für die Wurzeln von dieser Art von Konflikten? Also, man könnte ja sagen, "beide gehen in gewisser Weise von Politik- und Staatsversagen aus", je nach dem, von welcher Richtung man auf Politik- und Staatsversagen schaut. Aber dann passiert irgendetwas, was einen normalen Konflikt, der gesellschaftlich auch vielleicht gewünscht ist, indem man protestieren geht, indem man Vertrauenskrisen versucht zu bewältigen, dann umschlagen lässt in sowas wie Hate-Crime oder so was. Wie kommt denn das zustande?
Zick: Naja, also, tatsächlich, wenn wir jetzt uns mal die linksextreme Gewalt, linksextremistisch orientierte Gewalt angucken, dann sehen wir sie eher als eine Folge einer Provokation und auch eines massiv geschürten Konfliktes von Rechts. Das folgt dem. Das heißt, es ist eine Reaktion. Wir haben eine reaktive Gewalt. Wir haben zum Teil im Umfeld G20 auch im linken Bereich eine ganz andere Form von erlebnisorientierter Gewalt. Jan Philipp Reemtsma hat das mal sehr genau analysiert, dass diese neue Gewalt eigentlich nicht mehr, gerade im linken Spektrum gar nicht mehr so sehr eine ideologisch geformte, eine auf den Staat bezogene Gewalt ist, sondern da ist ja massiv jetzt im linken Bereich die Polizei der Gewaltgegner. Oder es sind die Rechtsextremen. Die Gewalt wird legitimiert dann scheinbar mit Menschenrechten. Das heißt, es geht auch gar nicht so sehr mehr um eine Reibung mit dem Staat, sondern es geht um eine Legitimation durch höherwertige Gründe für diese Gewalt. Das unterscheidet sich ganz massiv von der rechtsextremen Gewalt.
Bei der rechtsextremen Gewalt da gibt es tatsächlich diesen starken Impuls, mit der Gewalt Zeichen setzen, Besetzen des Raums, Wiederherstellung der Kontrolle durch die eigene Gemeinschaft. Der Staat an sich hat versagt. Das ist für Linksextreme nicht der Legitimationsmythos, weil der Staat an sich selbst ja kapitalistisch, korrupt ist. Darum geht’s nicht. Es geht eher um die Sicherheitsmaßnahmen – deswegen ist die Polizei der Gegner und weniger als in früheren Zeiten bestimmte Politiker, bestimmte politische Gruppierungen. Insofern gibt’s da sehr feine Unterschiede.
Aber deutlich ist auch, dass, wenn wir gesellschaftliche Spannungen haben, so massive Polarisation in der Migrationsfrage und gleichzeitig – und jetzt kommt noch ein Akteur in das ganze Spiel – haben wir ja erlebt, dass sich nach 2014 mit der Zuwanderung jene Institutionen, die in einer Gesellschaft Konflikte regulieren sollen, auf einmal zu Akteuren in dem Konflikt werden. Und jetzt rede ich mal von der Spitzenpolitik, die sich 2015 gegenseitig ständig Kontrollverluste vorgeworfen hat. Weil sie kein Migrationsleitbild hatten, weil sie gleichzeitig von dem Populismus fasziniert waren, wie viele Bürger, keine Ideen mehr hatten, keine politische Vision mehr hatten, keine Ideen mehr hatten von der Zukunft dieses Landes. In dem Moment geraten sie mit in den Konflikt.
Das heißt, in der Politik wird man Mit-Akteur in dem Konflikt. Und das hat sicherlich auch nochmal sehr deutlich die Polarisation vorangetrieben. Wenn sich Spitzenpolitik, die Bürgerinnen und Bürger wahrnehmen als jene, die regulieren müssten, wenn sie diese erleben als Gruppierung, die sich gegenseitig Kontrollverlust vorwirft, dann ist das Wasser auf die Mühlen des Populismus. Und dann passiert auf einmal in 2015, 2016, dass die Politik sagt, "der uns selbst vorgeworfene Kontrollverlust, den müssen wir jetzt mal irgendwie stoppen". Und wir leben dann in einer Gesellschaft, in der zunehmend das Paradigma gilt: Zuerst kommt die Sicherheit. Jetzt müssen wir wieder für Sicherheit sorgen. Das große Thema ist immer Kriminalität, und Sicherheit, Sicherheit, Sicherheit. Das große Thema ist ja nicht Demokratie.

Rechtspopulisten auf dem Vormarsch

Deutschlandfunk Kultur: Take back control.
Zick: Man kann von einer "Dekonsolidierung von Demokratie" sprechen, das Demokratiemisstrauen steigt. Und wenn dann Konflikte entstehen, die Institutionen regulieren das mit massiver Sicherheit – also, auf Terrorismus mehr Polizei, auf Auseinandersetzung mehr Polizei, auf Konflikte, Aggression mehr öffentliche Kontrolle. Das heißt, das Sicherheitsparadigma.
Und in dem Moment finden die Konflikte, die wir sehen, in bestimmten Räumen, in bestimmten Kommunen statt – Köthen, Chemnitz, Dortmund. Es sind kommunale Konfliktkonstellationen, viel leichter eskalierbar, weil, dahinter steht eine ganz starke Idee in extrem populistischen Gruppen: "Wir holen uns jetzt den Raum zurück."
Wir haben eine Studie durchgeführt, die als Kriterium der Zugehörigkeit Gleichwertigkeit sieht. Auf die Migration reagiert doch ein großer Anteil in der Bevölkerung, so vierzig Prozent, die dann sagen: "Ja, wir müssen uns jetzt den Raum wieder zurückholen, den öffentlichen Raum." Und da merkt man, dass sich gesellschaftliche Konflikte (politische Polarisierung; Unfähigkeit, Konflikte zu regulieren) sich in kleinräumlichen Konfliktkonstellationen abspielen. Und dann wird es als Gewalt sichtbar.
Deutschlandfunk Kultur: Was bedeutet das denn für das, was uns in diesem Jahr noch bevorsteht, drei Landtagswahlen im Osten Deutschlands: Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Wenn man jetzt sagt, dass Radikalisierung von einzelnen Gruppen auch eben dann – sagen wir – durchsickern in die Mittelschicht oder in eine breitere Öffentlichkeit? Dann kann man sagen, Sachsen: die Umfragen liegen für die AfD so bei 24, 25 Prozent im Augenblick, obwohl es da keine Führungsfigur seit dem Abgang von Frau Petry gibt. In Brandenburg liegen die Umfragen bei zwanzig Prozent. Andreas Kalbitz, dem rechtsnationalen Flügel der AfD zugehörig, schüttet da ordentlich Öl ins Feuer. Und Björn Höcke ist es in Thüringen, der ja auch eher für eine Radikalisierung oder eine Rechtsorientierung dieser AfD steht, spätestens seit er sich in Chemnitz mit Pegida-Leuten und Rechtsextremen gezeigt hat.

Polarisierende Wahlkämpfer

Zick: Ja, das Problem ist noch viel größer. Wir haben eine Europa-Wahl. Wir sehen, wenn wir uns 1980 bis 2017 anschauen und die Beteiligungen von rechtspopulistischen Gruppierungen an Regierungen, da haben wir einen linear ansteigenden Trend. Und das ist ja auch, was wir diskutieren. Wie werden die Sachsen reagieren? Geht man eine Koalition ein mit der AfD oder nicht?
Ich glaube, das, worauf wir jetzt achten müssen, und wenn ich als Forscher da drauf schaue, der sich mit Konflikten beschäftigt und der Frage, wann kippen Konflikte in Gewalt, dann würden wir sagen, wir müssen sehr sorgsam lernen aus der Vergangenheit und gucken: Was passiert, wenn im Zuge der Wahlkämpfe mit menschenfeindlichen Vorurteilsmustern agiert wird. Das heißt, wenn im Zuge der Wahlpropaganda Gruppen angeboten werden als Zielgruppen von Aggression und Feindseligkeit? Das heißt: Wie sehr wird wieder die Karte Immigration, Ausländerkriminalität gespielt? Das haben wir ja gehabt. Und haben wir darauf eine Antwort?
Deutschlandfunk Kultur: Das heißt, das ist die große Frage. Haben wir darauf eine Antwort?
Zick: Ja, natürlich haben wir eine Antwort. Genau dann, wenn es eben um Gewaltopfer dann auch bei der AfD geht, dass mit einem Hochfahren von menschenfeindlichen Vorurteilsmustern das ganze Spiel nur noch darum geht, wer schuld ist, wer die Kontrolle verloren hat oder wer weg muss. Das sind die drei Grundthemen. Wenn wir also in einem demokratischen Wettbewerb einen reinen Zielgruppenwettbewerb einziehen lassen, der darauf baut, dass Menschen sich anstecken lassen und für gesellschaftliche Probleme schnell Opfergruppen finden, wenn dieser Wahlkampf dadurch gerahmt wird, dann, können wir mit Sicherheit erwarten, dass es Aggressionen geben wird und dass es Gewalt geben wird.
Und das bedeutet für alle die, die dort nicht mitmachen möchten, die Anstrengung: Wie kann ich nun Vertrauen wiedergewinnen, ohne auf Vorurteilsmuster und Stereotypen über Gruppen zu rekurrieren?

Grundfeste der Demokratie

Deutschlandfunk Kultur: Ja, wenn man sich dann anschaut, was so ein Bundespräsident an Weihnachten sagt. Da hat Frank Walter Steinmeier in seiner Weihnachtsansprache gesagt: "Wir müssen wieder lernen zu streiten, ohne Schaum vorm Mund, und lernen, unsere Unterschiede auszuhalten. Wer Streit hat, kann sich auch wieder zusammenraufen." Also, ich glaube da eher dem von mir bewunderten Schriftsteller Gilbert Keith Chesterton, der mal gesagt hat: "Die Leute streiten, weil sie nicht gelernt haben zu argumentieren."
Zick: Ja. Und ich, als ich das gehört habe, habe gedacht: Aha, das ist ja das, was ich in meinen Seminaren zur Konfliktforschung mache. Unsere Studierenden müssen Konflikttheorien lernen. Und unsere Studierenden müssen auch lernen, dass Konflikte unterschiedliche Ursachen haben. – Aber die Frage ist nicht so sehr "streiten lernen", weil das ja so etwas bedeuten würde, als könnten wir da eine Kompetenz erwerben, gepflegt zu streiten. Vielmehr glaube ich, dass wir eine Rückerinnerung an die Grundfeste von Zivilgesellschaft brauchen. Das macht ja jede Form der Gewalt jetzt nun mal deutlich.
Und ich hoffe auch, dass man selbst in populistischen Gruppen nochmal innehält und sich überlegt: Demokratie bedeutet nicht, dass da Regeln und Normen sowieso vorhanden sind, sondern dass ich aus mir selbst heraus Konflikte regulieren kann ohne die Beschädigung von anderen Gruppen. Und dass politische Repräsentation bedeutet, dass ich im Falle schwerer innergesellschaftlicher Krisen mäßigend tätig bin. Das heißt, wir müssen uns überlegen, wie trotz der gesellschaftlichen Veränderungen – Vereinzelung, massiver Wettbewerb, die Wettbewerbe werden ja nicht aufhören, die Leistungsorientierung wird jetzt nicht runter geschraubt – eine Gesellschaft, die in sich schon rabiater wird bei dem, was sie verlangt von Einzelnen, sich genau in diesem Moment die Frage stellt: Was sind Eckpfeiler einer Zivilgesellschaft?
Und da könnte man, und das wird ja jetzt auch kommen, denn die internationalen Konflikte erreichen uns schneller, wieder darüber nachdenken: Was ist innergesellschaftlicher Frieden? Wie viel ist er uns wert?
Das große Problem wird sein, und das wäre jetzt der pessimistische Ausblick, dass wir politische Gruppierungen haben, die diesen Friedenskonsens nicht mehr eingehen, die sagen, dass die bisherige Gesellschaft in ihrer Form so versagt hat, dass die Idee des Versagens attraktiv ist.
Deutschlandfunk Kultur: Okay. Wir bleiben bei dem Rückerinnern an die Grundfesten der Zivilgesellschaft. – Vielen Dank für das Gespräch.
Zick: Ich danke Ihnen.
Mehr zum Thema