Konflikt um Katalonien

"Tragödie mit schlechtem Schlussakt"

Massenproteste in Barcelona für die Unabhängigkeit Kataloniens - hier am 21. Oktober 2017
Das soziale Klima sei durch die Unabhängigkeitsfrage in Katalonien gestört, sagt Burkhard Birke. © imago
Burkhard Birke im Gespräch mit Dieter Kassel · 27.10.2017
Es wird Ernst: Die nach Unabhängigkeit strebende spanische Region Katalonien wird von der Zentralregierung in Madrid wohl unter Zwangsverwaltung gestellt. Vor allem die Katalanen seien die Leidtragenden des Konflikts, sagt unser Korrespondent Burkhard Birke.
Egal, wer sich wie wann verhalten hat: Weder der katalanische Regionalpräsident Carles Puigdemont noch Spaniens Regierungschef Mariano Rajoy hätten ein Interesse daran, dass Katalonien nach Verfassungsartikel 155 zwangsverwaltet werde, sagt Birke. Von daher wolle er auch nicht ausschließen, dass Puigdemont als letzten Rettungsanker doch noch Neuwahlen ausrufe. Denn was sich nach dem gestrigen "Krimi" um diese Frage nun zutrage, sei eine "Tragödie mit einem schlechten Schlussakt": Regionalregierung und -präsident in Katalonien würden von Madrid entmachtet, Puigdemont drohten ein Prozess wegen Rebellion - und mehrjährige Haft.

Tiefer Riss durch die katalanische Gesellschaft

Birke sieht vor allem einen tiefen Riss in der katalanischen Gesellschaft, auch die Separatisten unter sich seien uneins. Die "Leidenden" seien die Menschen in Katalonien: 1.500 Firmen seien mit ihren Hauptsitzen bereits abgewandert, Konsum und Tourismus gingen zurück: "Das soziale Klima ist durch diese ganze Unabhängigkeitsfrage gestört, und man kann sich nur wünschen, dass der Konflikt schnell beigelegt wird, damit die Menschen hier wieder in Harmonie miteinander leben." (bth)


Das Interview im Wortlaut:

Dieter Kassel: Die Frage, ob es einen Sieger geben kann im Konflikt zwischen Katalonien und der spanischen Regierung in Madrid, die kann man wohl wirklich mit einem klaren Nein beantworten. Beide können und werden nur noch verlieren, die Frage ist nur noch, wer und wie genau. Was da gestern passiert ist in Barcelona und offenbar auch auf irgendwelchen Wegen zwischen Barcelona und Madrid, das war wirklich wie ein Krimi. Es sah nach einem möglichen Kompromiss aus stundenlang, und am Ende kam der dann nicht zustande. Wir wollen über das, was gestern passiert ist, und vor allen Dingen darüber natürlich, wie es heute weitergeht, jetzt mit unserem Korrespondenten in Barcelona, mit Burkhard Birke reden. Schönen guten Morgen, Herr Birke!
Burkhard Birke: Buenos dias!
Kassel: Das war Spanisch und nicht Katalanisch, das ist schon wieder Partei...
Birke: Bon dia, bon dia auf Katalanisch.
Kassel: Herr Birke, das, was wir gestern erlebt haben, ich glaube, das können Sie auch aus Barcelona bestätigen, das war ja wie ein Krimi. Geht es jetzt heute weiter eher wie in einer Tragödie, was glauben Sie?
Birke: Ja, Tragödie mit einem schlechten Schlussakt. Also es läuft jetzt alles darauf hinaus, dass einerseits der Senat in Madrid nun die Zwangsmaßnahme nach Artikel 155 der spanischen Verfassung wohl schließen wird, das heißt, die Regionalregierung, der Präsident sollen entmachtet werden, das Parlament soll hier in seinen Kompetenzen beschnitten werden, die Verwaltung soll übernommen werden. Es ist sogar, und das ist aber noch ein offener Punkt, die Rede davon, die katalanischen öffentlichen Medien unter die Kontrolle des Staatssekretariats für Kommunikation in Madrid zu stellen, und dann sollen binnen sechs Monaten Neuwahlen abgehalten werden.
Die Mehrheit im Senat ist ganz klar in den Händen der konservativen Volkspartei, sodass es jetzt unzweifelhaft ist, da ja keine Neuwahlen von Carles Puigdemont, dem katalanischen Regierungschef, ausgerufen wurden, dass eben diese Maßnahmen greifen werden. Parallel dazu wird ab Mittag heute hier in Barcelona das katalanische Parlament tagen, und die Zeichen stehen dort auf Unabhängigkeit – jedenfalls ist das der Antrag, den die Separatisten einbringen wollen, obwohl die Separatisten unter sich sehr gespalten sind über die Frage.

Der Verlierer heißt Carles Puigdemont

Kassel: Aber wenn Sie sagen, sehr gespalten, das ist ja auch ein innerparlamentarischer Konflikt in Barcelona, auch das, was wir gestern erlebt haben, dann ist aber möglicherweise der Krimi, der Thrillerteil auch noch nicht ganz vorbei, oder?
Birke: Absolut nicht. Der Wirtschaftsminister der Regierung Puigdemont ist zurückgetreten, weil er eben nicht einverstanden war, dass sein Regierungschef eben nicht Neuwahlen ausgerufen hat, um vielleicht doch noch mal einen Versuch zu starten, die Maßnahmen des Artikel 155 abzuwenden von Katalonien. Denn eins muss man sagen: Egal, wer sich wie wo was verhalten hat, ich glaube, dass weder Mariano Rajoy, also der konservative Regierungschef in Madrid, noch Carles Puigdemont ein Interesse daran haben, dass es zum Einsatz dieser Maßnahmen kommt. Von daher gesehen möchte ich nicht nach dem Krimi und dieser Tragödie und dem Hin und Her von gestern auch noch nicht völlig ausschließen, dass in letzter Minute, bevor der Artikel 155 in Kraft träte – und das wäre nur nach Veröffentlichung im Staatsanzeiger –, Carles Puigdemont sich dann doch noch mal hinstellt und Neuwahlen ausruft, sozusagen als letzten Rettungsanker eben das auswirft.
Kassel: Aber ich habe vorhin behauptet, einen Sieger kann es in diesem Konflikt nicht mehr geben, weder eine Person noch eine der beiden betroffenen Regierungen, aber einen Verlierer kann man, glaube ich, schon jetzt ausmachen, denn egal, was heute Vormittag und im Laufe des Tages noch passiert, der Verlierer heißt Carles Puigdemont.
Birke: In der Tat, denn einerseits, wenn der Artikel 155 wirklich in Kraft tritt, wird er entmachtet und es droht im sogar ein Prozess wegen Rebellion, dafür könnte er bis zu 30 Jahre ins Gefängnis gehen – übrigens auch anderen Regierungsmitgliedern könnte das passieren. Und er ist in jedem Fall auch der Verlierer, selbst wenn er Neuwahlen ankündigt, weil er wurde ja regelrecht von seinen Koalitionspartnern vorgeführt. Die Partei Esquerra Republicana, also die linke republikanische Partei, hat gestern eben seine Absicht durchsickern lassen, dass er Neuwahlen erklären würde, und der Führer, sein Stellvertreter Oriol Junqueras, hatte am Abend vorher gesagt, Madrid ließe den Katalanen keine andere Wahl, als jetzt die Unabhängigkeit zu erklären. Also hier ist ein tiefer Riss auch im Bündnis der Parteien von Junts pel Sí, das heißt, wir sind gemeinsam für das Ja, für das Ja zur Unabhängigkeit.

1500 Firmen sind aus Katalonien abgewandert

Und ob dieser Riss sehr, sehr groß ist, wird sich natürlich dann auch heute im Parlament zeigen, wenn über diese mutmaßliche Unabhängigkeitserklärung abgestimmt wird, denn so dicke ist die Mehrheit der Separatisten im Parlament nicht, dass es da nicht eine Überraschung geben könnte, wenn einige der Separatisten sagen, nein, ich bin nicht damit einverstanden, dass jetzt einseitig die Unabhängigkeit erklärt wird. Also hier ist alles im Moment offen, und es ist wirklich, wie Sie eingangs sagten, ein Krimi, eine Tragödie, und vor allen Dingen die Nachtragenden, die Leidenden sind die Menschen hier in Katalonien, denn es sind mittlerweile schon 1500 Firmen abgewandert mit ihren Hauptsitzen, und das Konsumverhalten lässt nach, die Touristen buchen nicht mehr so fleißig, und das ist halt, das große Nachsehen haben hier wirklich mal wieder die Menschen, und es geht wirklich auch ein Riss durch die Gesellschaft. Das Klima, das soziale Klima, ist durch diese ganze Unabhängigkeitsfrage gestört, und man kann sich nur wünschen, dass der Konflikt schnell beigelegt wird, damit die Menschen hier wieder in Harmonie miteinander leben.
Kassel: Burkhard Birke live aus Barcelona. Das wird mit Sicherheit heute auch an diesem Tag allein nicht das letzte Mal sein, dass Sie Burkhard Birke in unserem Programm gehört haben, denn Sie haben es ja gehört, heute Vormittag, heute Mittag sind Entscheidungen und Ankündigungen aus Madrid und aus Barcelona zu erwarten, und genauso wie der gestrige Tag auch einer war, bleibt das heute in jedem Sinne des Wortes ein spannender Tag in Spanien.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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