Kompromissfähigkeit

Die Klugen kooperieren

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Illustration einer Porson, die ein Zahnrad über einer Felsbrücke aus Zahnräder, in Richtung einer Lücke, schiebte
Wenn wir das gemeinsame Handeln, das im Kompromiss begründet liegt, nicht wiederentdecken, wird es uns schlecht gehen, meint Andreas Weber. © Getty Images/Digital Vision Vectors/erhui1979
Ein Standpunkt von Andreas Weber · 20.10.2020
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Die einen fordern gerade weniger Einschränkungen, die anderen strengere Regeln. Politiker stehen dazwischen und müssen Entscheidungen fällen. Das Problem: Wer Kompromisse eingeht, gilt oft als schwach. Ein Irrtum, meint der Philosoph Andreas Weber.
"Das Leben ist ein Spiel – nach meinen Regeln". So der Werbespruch einer Dating-App. Wer Zugeständnisse macht, klingt darin an, verpasst etwas – im schlimmsten Fall sich selbst. Kompromisse stehen nicht hoch im Kurs. Sie sind nicht nur unbeliebt – wir trauen ihnen vielfach nicht zu, sinnvolle Lösungen für Konflikte zu ermöglichen. Einfache Rezepte: Das propagieren auch Populisten mit Erfolg. Der Brexit etwa ist eine Glanznummer der Kompromissverweigerung. Und gerade darum kommt er bei vielen Briten an.

Lebensziele anderer werden nicht anerkannt

Heute schimpfen Menschen über Zugeständnisse. Sie glauben, dass wir viel zu viele machen – aber in Wahrheit sind es zu wenige. Denn die miesen Deals, bei denen etwa Internet-Weltkonzerne kaum Steuern zahlen, aber Geringverdiener geschröpft werden, haben mit Kompromissen nichts zu tun. Wir leben in einer kompromissfernen Zeit – und es bekommt uns gar nicht gut. Soziale Ungerechtigkeit, Rassismus, Artensterben und Klimawandel, also die Ablehnung von Gegenseitigkeit gegenüber menschlichen und nicht menschlichen Mitspielern des Lebens, sind alle Ausdruck einer Weigerung, die Lebensziele anderer anzuerkennen.


Wenn wir das gemeinsame Handeln, das im Kompromiss begründet liegt, nicht wiederentdecken, wird es uns schlecht gehen, als Gesellschaft und als Einzelnen. Das mag auf den ersten Blick paradox erscheinen, und unbequem. Aber ein gelungener Kompromiss ist eben keine Schande, sondern im Gegenteil ein Ausdruck der Kunst, Beziehungen so zu führen, dass für alle ein Stückchen Leben darin enthalten ist. Das Wort Kompromiss kommt vom lateinischen "cum-promissum" und bedeutet ein gegenseitiges Versprechen. Letztlich verspricht man einander darin, die Menschlichkeit des anderen zu wahren.

Kooperation macht uns zu Menschen

Die Philosophin Hannah Arendt nannte das "Zusammenhandeln". Individuen, die unterschiedliche Bedürfnisse haben, setzen sich an einen Tisch, legen alle Karten darauf, und gemeinsam schauen sie, wie sich möglichst viele Interessen realisieren lassen. Alle machen Abstriche, aber alle können auch einige Wünsche umsetzen. Erst dieses Zusammenhandeln macht Beziehungen überhaupt möglich.
Kooperation mache uns zum Menschen, sagt der Verhaltensforscher Michael Tomasello vom Leipziger Max-Plack-Institut für evolutionäre Anthropologie. Wir sind am glücklichsten, wenn wir sowohl die eigenen Ziele als auch die anderer erfüllen. Das könnte heißen: Wir sind von Natur nicht gut, nicht böse, sondern für den Kompromiss gebaut. Wir brauchen demnach eine Kultur, die das Ethos des Mittelweges mit Leidenschaft wiederbelebt. Sobald Ziele heiliggehalten werden, bleibt den Partnern für einen Kompromiss wenig Raum. Als heilig sollte allein die Lebendigkeit des Gegenübers gelten.

Kompromissbereite sind keine Loser

Aber derzeit gilt ein Gedanke als unantastbar: Der Stärkere siegt. Diese Auffassung bestimmt die Wirtschaftslehre, – und sie liegt unserem Bild der Natur – auch der eigenen zugrunde. Das Überleben des Fittesten ist Dogma. Es steht nicht zur Disposition. Das kapitalistische Prinzip der Effizienz und Selbstoptimierung siegt immer – auch gegen die Lebendigkeit.
Diese Kompromisslosigkeit durchzieht unsere Welt. Es ist in Wahrheit kein Wunder, wenn Populisten, für die alle Kompromissbereiten als Loser gelten, das Ruder übernehmen. Ihre wirren Gewaltreden legen in Wahrheit nur offen, was längst unterschwellig gilt: Wir haben vergessen, was es heißt, gemeinsam zu handeln.

Dr. Andreas Weber (*1967) ist Biologe, Philosoph und Schriftsteller. Seine mehr als ein Dutzend Bücher zur Frage, wie der Mensch seine Rolle als fruchtbarer Teil des Lebens wiederfinden kann, wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Weber unterrichtet an der Universität der Künste, Berlin. Zuletzt erschienen: "Indigenialität" und "Warum Kompromisse schließen?"

© Florian Büttner
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