Komponisten aus der B-Liga

"Goethe und seine Komponisten" heißt Millers Buch im Untertitel. Wer aber waren "seine" – Goethes - Komponisten? Erzählt werden vier Beziehungsgeschichten mit Musikern.
Nummer eins, den Jugendfreund Philipp Christoph Kayser, möchte er in das Projekt einer neuen deutschen Singspielschule einspannen - exemplarisch sollten Wort und Musik zusammenkommen. Es wird reichlich theoretisiert und immer wieder experimentiert, es entstehen Goethes Singspiele - "Erwin und Elmire", "Claudine von Villa Bella", "Scherz, List und Rache" - aber schließlich kann Kayser dem Erwartungsdruck nicht standhalten.

Folgt Nummer zwei, Johann Friedrich Reichardt - Journalist, Komponist und preußischer Hofkapellmeister - ein Mann von anderem Kaliber als der zaudernde Kayser, doch selbst er ein Zwerg vor dem Schaffensriesen Goethe. Aber auch hier scheitert am Ende nicht nur das gemeinsame Opernerneuerungsunternehmen, es scheitert auch eine Freundschaft - diesmal aus politischen Gründen, als Reichardt in Verdacht gerät, es mit den französisch-revolutionären Jakobinern zu halten:

"So war er von der musikalischen Seite unser Freund, von der politischen unser Widersacher","

schreibt Goethe. Er schreibt aber auch - in seinen gnadenlos bissigen "Xenien" mit Schiller - nicht weniger als 36 Spottverse auf Reichardt, der von seiner Goethebewunderung dennoch nie loskam und einem da schon ein wenig leidtun kann.

Es gibt wahrscheinlich keinen, der mehr befugt wäre über Goethe und die Musik zu schreiben als Norbert Miller - nicht nur Goetheherausgeber, sondern auch der beschlagenste Musikkenner unter allen Germanisten. Miller ist auch ein Spezialist der Sonderkunst, in Goethes oft kanzleihaft förmlichen Sendschreiben, mit denen er sich an "seine" Komponisten wandte, zwischen den Zeilen zu lesen, winzigen Erschütterungen des künstlerischen und menschlichen Dialogs nachzuspüren.

Gleich zwei große Kapitel gelten Goethes spätem Briefgesprächsgegenüber, dem Berliner Komponisten, Musikerzieher und kulturpolitischem Zampano Carl Friedrich Zelter. Der wurde regelrecht erwählt - erst zum musikalischen Berater, dann zum Altersfreund: 32 Jahre dauerte das Gespräch, das bald das fachlich-musikalische Terrain verließ und Gott und Weltenklatsch umfasste. 875 Mal ging Post zwischen Berlin und Weimar hin und her. Dem geläufigen Vorurteil, es handele sich hier um Altherrengeschwafel, tritt Miller mit Emphase entgegen - vor allem, indem er sich an dem Autor Zelter begeistert:

""Jeweils verwandelt Zelter im Schreiben das äußere Erlebnis in eine erzählerische Charakterisierung von innen heraus. Und wie überraschend sind diese Charakterisierungen, auf kleinste, in einem Wort festgehaltene Wendungen konzentriert! Und ohne jede Prätention."

Kayser, Reichardt, Zelter: Musikgeschichtlich spielen Goethes Komponisten eher in der B-Liga. Gerahmt wird dieses Triptychon durch die Begegnungen mit echten Wunderkindern: Den siebenjährigen Mozart hatte der 14-jährige Goethe noch in Frankfurt erlebt und sich "des kleinen Mannes in seiner Frisur und Degen" zeitlebens erinnert. In Weimar ließ er gern und oft Mozartopern spielen und hätte gern die "Zauberflöte" fortgesetzt.

Die späte Liebe, und Millers letztes Kapitel, gilt dann dem jungen Felix Mendelssohn, der den Geheimrat mit seiner Überbegabung rührt. Mendelssohn spielt dem Alten eines Tages Beethovens Fünfte auf dem Klavier vor, was Goethe irgendwie ratlos brummelnd quittiert:

"Das ist sehr groß, ganz toll, man möchte sich fürchten, das Haus fiele ein; und wenn das nun alle die Menschen zusammenspielen!"

Vor Musik aber wollte sich Goethe nicht fürchten müssen. So kommt Beethoven nur als Intermezzo vor, denn zu "seinen" Komponisten ist er kaum zu zählen. Der größte Dichter hat den größten Komponisten seiner Zeit eben nicht erkannt.

Die Nachwelt hat Goethe übel genommen, dass er sich mit Zelter schrieb und nicht nur Beethoven, sondern auch Schubert überhörte. Miller nimmt den Dichter in Schutz, indem der das Klischee vom im Grunde unmusikalischen Augenmenschen durch Differenzierung auflöst. Dabei klingt Miller selbst ein wenig wie der alte Goethe, mit einem Hang zur sprachlichen Gediegenheit. Auch ist dies kein oberflächlich "spannendes" Buch, eher ein wohltätig langweiliges, eines zum Lesen lernen, wie zum genauen Hören.

Besprochen von Holger Noltze

Norbert Miller: Die ungeheure Gewalt der Musik. Goethe und seine Komponisten
Hanser Verlag, München 2009
448 Seiten, 24,90 Euro