Komponist Hans-Joachim Hespos

Töne aus dem Material der Instrumente

Hans-Joachim Hespos während eines Podiumsgesprächs an der Folkwang Universität der Künste (8. Juni 2010)
Komponist Hans-Joachim Hespos im Jahr 2010 © Stefan Drees
Von Leonie Reineke · 13.03.2018
Er gilt als das "enfant terrible" der Avantgarde: der Komponist Hans-Joachim Hespos. Opposition und Störung gehören seit jeher zu seinem musikalischem Grundwortschatz. Seine Klänge präsentiert er oft mit skurrilsten szenischen Aktionen. Nun ist Hespos 80 - und immer noch aktiv.
"Ich bezeichne mich ja auch als Täter, der durchaus die Aufmerksamkeit der Polizei verdient. Ich versuche geradezu auch, das Hören zu provozieren, indem ich die Leute angehe, sie wach mache, sie ärgere, sie pieke, um voller Ungeduld zu sagen: Komm, nun hör doch endlich zu."
Hans-Joachim Hespos ist kein Krimineller. Er ist Komponist. Dass er sich dennoch als "Täter" bezeichnet, ist keine Übertreibung, sondern zeugt von seinem Selbstverständnis als Künstler: Er liebt die Extreme, die musikalische Offensive, die Kompromisslosigkeit: ganz laut oder ganz leise, grenzgängerische Virtuosität oder Stillstand. Das Mittelfeld betritt er nie.
Der 1938 in Emden geborene Komponist ist Autodidakt. Weder den Dogmen einer avantgardistischen Denkschule musste er sich anpassen, noch dem Leitbild einer Lehrerpersönlichkeit nacheifern. Bis heute gilt er zu Recht als Individualist und Nonkonformist. Seiner Musik ist das anzuhören: Die Forderungen, die er an Interpreten stellt, grenzen an Körperverletzung.

Eine genaue Beschreibung mit Wörtern, die es gar nicht gibt

Indem er die Spieler an ihre physischen Grenzen treibt, möchte er klangliche Potenziale herauskitzeln, von denen niemand etwas ahnte. Und um ihnen bei dieser Herkulesarbeit so gut wie möglich zur Seite zu stehen, versieht er seine Partituren sorgfältig mit Spielanweisungen.
"Ich möchte die Klänge, die ich höre, so präzise wie möglich notieren und bediene mich da neben der traditionellen Zeichengebung dann auch Verbalien, zum Teil Wörter, die es nicht gibt, um eine Idee zu geben, was gemeint ist."
Hespos’ fantasievolle Wortneuschöpfungen sprechen für sich. Das können Begriffe sein wie: "knubbeldumpf", "heftig versprillt", "quirlig vermanscht" oder "schlabbriger Lippenfurz".
Die Musik von Hans-Joachim Hespos ist nicht nur für die Interpreten eine Zumutung, sondern auch für die Hörer: So zum Beispiel das 1982 entstandene szenische Ensemblestück "Seiltanz". Mit bedrohlichen Manövern bewegt sich ein Akteur – mit Blechwanne, Balken und Mehlsack ausgerüstet – mitten durch den Zuschauerraum.
"Seiltanz: eine einstündige Komposition. Diese ganze Geschichte schaukelt sich auf zu einem gigantischen Inferno, ein totales Sich-Entäußern. Man schreit und bläst und musiziert sich die Lunge und die Knochen aus allen Leibern."
Gleichzeitig befreit sich ein Schlagzeuger mithilfe eines Schweißgeräts aus einem Eisentank. Der Lärm ist ohrenbetäubend.

Die Geige? - Pferdehaar auf Katzendarm

Mit seinen musikalischen Exzessen möchte Hespos niemanden künstlich in Schock versetzen. Im Gegenteil: Indem er Anstrengung bis zur völligen Erschöpfung in seine Werke mit einkomponiert, schafft er Situationen, wie sie natürlicherweise zum Leben dazu gehören. Denn Musik und Leben hängen für Hespos zusammen wie der Mensch und sein Stoffwechsel.
"Leben ist in-Musik-Sein. Leben geht nicht ohne Atmen, Leben geht nicht ohne Hören, das ist das Gleiche."
Diese Äußerung zeugt von einer radikalen Liebe zur Musik. Die Musik, die Hespos meint, ist allerdings alles andere als ein schickes Designprodukt. Instrumente zum Beispiel sollen in seinen Stücken nicht sauber und brillant, sondern lebendig klingen. Daher denkt Hespos sie in ihren materiellen Urzustand zurück: Die Geige ist für ihn "Pferdehaar auf Katzendarm", die Orgel ist "ein Haufen Knochenflöten". Zu hören ist das in seinem Stück "Sns". Hier kommt die Orgel als Klapperinstrument zum Einsatz. Das Klappern holt Hespos aus den Pedalen, den Registern und sogar der Holzbank des Organisten.
Mehr zum Thema