Kommentar zur Ukraine-Wahl

Reiz und Risiko politischer Neulinge

05:16 Minuten
Der künftige ukrainische Präsident, Wolodymyr Selenskyj
Die Aura der Jugend heißt: Alles ist möglich! - Aber wofür steht der künftige ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wirklich? © AP
Von Dominik Erhard · 28.04.2019
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Der 41-jährige Wolodymyr Selenskyj ist neuer Präsident der Ukraine. Als junger Außenseiter, ohne klares Programm, verkörpert er die Sehnsucht nach Veränderung – aber zugleich die Gefahr einer bloß symbolischen Befriedigung dieser Sehnsucht.
Das Versprechen, das von politischen Youngsters und Außenseitern ausgeht, beschrieb der Philosoph Walter Benjamin bereits vor über 100 Jahren. Er zog mit Anfang 20 vehement gegen die "gewaltige Ideologie" der Erfahrung ins Feld. "Die Maske des Erwachsenen heißt ‚Erfahrung‘", schrieb er 1913. "Sie ist ausdruckslos, undurchdringlich, die immer gleiche." Dagegen repräsentiere die Jugend den Geist radikaler Veränderung, ein Privileg, das darauf beruhe, erfahrungslos, also maximal uneingeschränkt, ja: unbestimmt zu sein.

Jugendliche "Unbestimmtheit" als Motor der Veränderung?

Diese Unbestimmtheit verkörpert Wolodymyr Selenskyj – 41 Jahre alt und neuer Präsident der Ukraine – wie wenige vor ihm: Es ist kaum zu sagen, was er vorhat, wofür er steht und wofür nicht. Seine Botschaft ist bis dato im Wesentlichen beschränkt auf: "Ich werde euch nie enttäuschen." Da er im Vorfeld der Wahl kaum Interviews gab und sich auch nach seinem Sieg nur vage zu seinen Vorhaben äußerte, ist Selenskyj so etwas wie eine politische Blackbox. Damit hat er sich zur Projektionsfläche für ganz unterschiedliche Wählermilieus und deren Erwartungen gemacht.
Also ist, in gewisser Weise, tatsächlich alles möglich. Aber während Benjamin die Unbestimmtheit zum Ausweis der radikalen Veränderung macht, scheint sie bei Selenskyj mindestens ebensosehr eine Vorsichtsmaßnahme gegen Reklamationen zu sein, nach dem Motto: Wer nichts verspricht, kann auch nicht enttäuschen. Seine Wette könnte darauf lauten, dass die bloß ästhetische Befriedigung – die ausgestellte Jugend und der rhetorische Aufbruch – tatsächliche politische Veränderungen vergessen lässt.

Die gefährliche Kehrseite der Jugend-Euphorie

Walter Benjamin hat das, als er älter war, selbst beschrieben: Er musste seinerzeit die bittere Erfahrung machen, dass der Jugend- und Außenseiterbonus in der Politik besonders den Nationalsozialisten zugutekam. Als "Partei der Jugend" gelang es ihnen gegen Ende der 1920er-Jahre aus der Tatsache Kapital zu schlagen, dass ihr Personal im Schnitt 10 bis 15 Jahre jünger war als das der älteren Parteien. Später, im Pariser Exil, hat Benjamin die Strategie der Faschisten eine "Ästhetisierung der Politik" genannt. Ihr perfider Kunstgriff bestehe darin, die Sehnsüchte der "Massen" zu symbolisieren, anstatt ihre materiellen Bedürfnisse zu befriedigen.
Obwohl sie auf inhaltlicher Ebene nichts mit den Nazis gemein haben, ist das eine Formel, die man auch auf einige der heutigen Politiker anwenden kann, die ihr Alter zum Verkaufsargument machen. Mit dem jungen Benjamin gesprochen: Zwar fehlt diesem Politikertypus die "immer gleiche" Erfahrung, aber gerade wegen dieser Unbestimmtheit droht ein Verharren in der bloßen Pose, der reinen Ästhetik der Veränderung – ohne, dass sich an den materiellen Verhältnissen (Armut, Korruption oder fehlende Mitbestimmung) tatsächlich etwas ändert. Dies droht umso mehr, als hinter Selenskyj, Berichten zufolge, ein mächtiger Oligarch steht – und er damit womöglich alles andere als unbestimmt ist.

Verbesserung nur mit Geschichtsbewusstsein

Andererseits, und nun mit dem späten Walter Benjamin gesprochen, bergen historische Momente größter Unsicherheit auch stets das Potenzial zu radikaler Verbesserung. Die entscheidende Erkenntnis sei allerdings, so hält der Philosoph kurz vor seinem Tod fest, dass sich Fortschritt nicht automatisch einstellt, sondern die Vergangenheit nach jenen Bruchstellen durchsucht werden muss, die zur derzeitigen Misere geführt haben.
Wirklich unbestimmt, überraschend und im Sinne Walter Benjamins fortschrittlich würde der neue Präsident der Ukraine also handeln, wenn er anders als seine jungen Amtskollegen in Italien und Österreich nicht pubertär mit der Vergangenheit brechen würde, sondern den Blick des relativ jungen Außenseiters radikal offen auf die trümmerbeladene Geschichte richten würde, um sein Land in eine andere, bessere Zukunft zu führen. Von solchem Geschichtsbewusstsein hat die Blackbox Selenskyj bislang allerdings noch nichts gezeigt.

Dominik Erhard studierte Germanistik und Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seit August 2017 ist er Redakteur beim Philosophie Magazin. Seine Schwerpunkte sind Strukturalismus und philosophische Einflüsse in literarischen Werken.

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