Kommentar zum Ende des INF-Vertrags

Wie geht Politik im Angesicht der Auslöschung?

04:45 Minuten
Ronald Raegan und Michail Gorbatschow unterzeichnen am 1. Juni 1988 den INF-Vertrag in Moscow.
Entscheidung von immenser Reichweite: Am 1. Juni 1988 unterzeichnen Ronald Reagan und Michail Gorbatschow den INF-Vertrag in Moskau. © imago/ITAR-TASS
Von Andreas Urs Sommer · 10.02.2019
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Spätestens nachdem Russland letzte Woche neue Raketenprogramme angekündigt hat, ist klar: Mit dem Ende des INF-Vertrags wird die Gefahr atomarer Vernichtung für Europa wieder real. Was heißt das für die Möglichkeit von Politik?
Man kann nicht sagen, dass das deutsche Publikum von der Aussicht, in die Reichweite russischer Atomraketen zu kommen, besonders verstört wirkte. Jedenfalls ging man rasch zur Tagesordnung über, beschäftigte sich mit Gerechtigkeitsrenten und Haushaltslöchern, Venezuela und Gelbwesten.
Anders als in den Achtziger Jahren, als die Mittelstreckenwaffen für heftige politische und emotionale Turbulenzen gesorgt haben, scheint hierzulande die atomare Bedrohung heute kaum mehr greifbar, die völlige Auslöschung außerhalb des Denkhorizontes. Wie sich letztes Jahr auch im Falle Nordkoreas gezeigt hat: Auch die sollen ja die Bombe haben – aber was geht's uns an?

Zwingt uns die Bombe zur Politik?

Selbst in Raketenreichweite zu sein, verändert freilich die Lage auch für diejenigen, denen Nordkorea ganz egal ist. Tritt da nicht ein Zwang zur Politik, eine Nötigung zu handeln auf, will man sich gegen die Zumutung wehren, selbst potentielle Zielscheibe von Massenvernichtungswaffen zu sein?
Das könnte bedeuten, dass in Anbetracht des unsicheren Kantonisten im Weißen Haus Europa sich zusammenraufen und endlich eine Geostrategie entwickeln, sich selbst atomar bewaffnen oder Russland mit rigorosen Wirtschaftssanktionen von den Raketenplanspielen abbringen muss.
Man mag diesen Zwang zur Politik mit jener Prophezeiung veredeln, die Karl Jaspers schon 1958 ausgesprochen hat: "Um die Freiheit des Menschen nicht zu verlieren, darf die Möglichkeit nicht verdeckt werden, daß in einem kommenden Augenblick die Entscheidung getroffen werden müßte: Entweder totalitäre Herrschaft oder Atombombe."

Oder erstickt sie jedes politische Handeln?

Andererseits: Wo Zwang herrscht, ist vielleicht gar keine Politik mehr möglich. Ist denn die Drohung mit der Bombe nicht im wahrsten Sinne des Wortes ein Totschlagargument, das jede Alternative im Keim erstickt? Schneidet die Aussicht auf Auslöschung nicht jeden Möglichkeitsraum ab und gestattet nur noch die heillose Wahl zwischen einer auf Dauer gestellten Konfrontation oder völliger Lähmung, weil wir gegen die Atom-Mächtigen ohnehin nichts auszurichten vermögen? Der vermeintliche Zwang zur Politik wäre dann nichts weiter als ein Zwang zur Ohnmacht, eine Nötigung, von allem Handeln, von aller Politik im eigentlichen Sinne abzusehen.
Aber halt! Genauer betrachtet, sind die Zwänge zur Politik und zur Ohnmacht gleichermaßen Chimären. Die Atombombe, die mit ihr assoziierte Möglichkeit, menschliches Leben gänzlich zu vernichten, muss weder zu Schockstarre noch zu geostrategischem Alternativlosigkeitsgebahren verurteilen. Aus dem Umstand, dass die Mittelstreckenraketen auf uns gerichtet werden, folgt nicht, dass wir notwendig auf bestimmte Weise reagieren müssten.

Verteidigung des Möglichen

Auf Abrüstung zu setzen, statt selbst aufzurüsten, liegt sehr wohl im Bereich des Möglichen, wie schon die Proteste gegen die Pershing-Stationierung in den 80er Jahren zeigten. Gerade in der Verteidigung des Möglichen angesichts eines vorgeblichen Zwangs zeigt sich der Kern des Politischen: Dass man nämlich die Dinge immer auch anders anpacken kann.
Die Möglichkeit der nuklearen Vernichtung – so wir sie denn einkalkulieren – stellt uns vor allem eine Möglichkeit drastisch vor Augen: die Möglichkeit, einmal keine Möglichkeiten mehr zu haben. Das wiederum macht die verbleibenden Möglichkeiten überaus wertvoll. Also tun wir gut daran, den Möglichkeitsspielraum wertzuschätzen und auszuschöpfen – solange wir ihn noch haben. Es ist heilsam, sich die künftige eigene Auslöschung von Zeit zu Zeit vor Augen zu führen, mit oder ohne Bombe.
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