Arnd Pollmann schreibt Bücher über Integrität und Unmoral, Menschenrechte und Menschenwürde. Er ist Professor für Ethik und Sozialphilosophie an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin.
Hier gilt zu Recht zweierlei Maß
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Maskendeals, Impf-Vordrängler, Plagiatsfälle – die Vorwürfe gegen das politische Personal häufen sich. Aber machen wir nicht alle Fehler? Wer in die Politik geht, muss sich höhere Maßstäbe gefallen lassen, meint Arnd Pollmann.
Im Januar 1919 hält Max Weber den berühmten Vortrag "Politik als Beruf". Der Erste Weltkrieg ist eben erst beendet und inmitten revolutionärer Wirren ist fraglich, welches Regierungssystem an die Stelle der in Deutschland abgedankten Monarchie treten wird. In dieser prekären Lage wünscht sich Weber einen neuen Typus charismatischer Berufspolitiker herbei.
Charaktertest fürs politische Personal
Ihnen dürfe es nicht länger bloß um Macht gehen, sondern auch um Moral. Die "Berufskrankheit" der Eitelkeit sei zu überwinden, die das eigene Ich wichtiger als das politische Anliegen nehme. Stattdessen komme es auf drei zentrale Tugenden an: "Leidenschaft" für die Sache, "Verantwortlichkeit" mit Blick auf die Folgen des eigenen Tuns sowie das "Augenmaß" besonnener Realitätsnähe.
Mit dieser berufsethischen Arbeitsplatzbeschreibung hängt die Latte hoch für heutige Berufspolitikerinnen und -politiker. Der Wahlkampf dieser Tage mag kaum mit der Orientierungskrise des Jahres 1919 zu vergleichen sein. Und doch liegt eine pandemische Großkrise noch nicht ganz hinter uns – dafür eine globale Klimakrise vor uns.
Warum sollte man denen, die in Kürze das politische Krisenmanagement übernehmen wollen, einen ethischen Charaktertest ersparen? Zumal das Personal gern auch selbst den moralischen Zeigefinger hebt.
Besser als der Durchschnitt
So wird vielerorts eine geradezu überreizte Kritik an charakterlichen Verfehlungen laut, die im privaten Miteinander doch eher als lässliche Sünden durchgehen. Dies wiederum ruft Gegenprotest hervor: Politikerinnen und Politiker seien schließlich auch nur Menschen. Daher sei es doppelzüngig, an sie höhere ethische Maßstäbe anzulegen.
Tatsächlich gibt es gute Gründe, hier doch mit zweierlei Maß zu messen. Denken wir zunächst daran, dass viele Politikerinnen und Politiker ja nicht nur in Ämter gewählt, sondern oft auch mit Steuergeldern unterhalten werden. Da liegt es nahe, auch in ethischer Hinsicht etwas mehr als bloß durchschnittliches Engagement zu verlangen.
Tatsächlich handeln viele Politikerinnen und Politiker sehr verantwortlich. Und gerade deshalb darf es nicht zu viele schlechte Beispiele geben.
Die Staatsmacht im Rücken verlangt besondere Pflichten
Daraus ergibt sich, zweitens, eine staatsbürgerliche Vorbildfunktion. Wer ein Amt anstrebt oder repräsentiert, sollte auf paradoxe Weise einen Tick repräsentabler sein als die Repräsentierten selbst.
Wer sich beim Impfen vordrängelt oder unlautere Maskendeals einfädelt, verfehlt diese Vorbildfunktion. Ebenso jene, die man beim eitlen Aufhübschen von Lebensläufen oder vermeintlich eigenen Publikationen erwischt.
Damit geht, drittens, die Erwartung krisenfester Glaubwürdigkeit einher. Anders als bei Beamtinnen und Beamten, die ihre Arbeit lautlos unparteiisch erledigen sollen, ergibt sich die Glaubwürdigkeit der Politik – so lässt sich bereits Max Weber deuten – aus einer leidenschaftlichen und unbestechlichen Verantwortung für die Sache.
Unglaubwürdig oder heuchlerisch wirkt dagegen, wer bloß vorgibt, eine feste Gesinnung zu haben, sich ansonsten aber rasch vom Kurs abbringen lässt.
Augen auf bei der Berufswahl!
Auf den vierten, den entscheidenden Grund hat ebenfalls schon Weber hingewiesen: Wer ein Staatsamt innehat, kann dabei auf Rückendeckung durch das exekutive Gewaltmonopol hoffen. Im Namen des Staates werden Menschen nicht nur geschützt, sondern auch geschädigt, inhaftiert, monatelang im Lockdown gehalten, in ihrer Existenz ruiniert oder in den Krieg geschickt. Vor allem dieses Gefährdungspotenzial begründet besondere Pflichten des Berufsstandes.
Auch wenn derzeit kaum mehr zwischen berechtigter Kritik und moralistischen Kampagnen zu unterscheiden ist: Höhere ethische Maßstäbe sind ein Berufsrisiko jener, die politische Gewalt verantworten. Wer sich über diese – ausnahmsweise berechtigte – Doppelmoral beklagt, hätte bei der Berufswahl auf den Rat hören sollen: "Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich nicht was Besseres findet!"