Kommentar zu Nawalnys Rückkehr nach Moskau

Das Heldentum demokratisieren!

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Eine junge Frau mit Wollhandschuhen, Mütze und Mundschutz hält ein Schilf, auf dem in kyrillischer Schrift "Protest" steht.
Unterstützung für Alexej Nawalny: Die Teilnehmerin einer nicht genehmigten Kundgebung in Nowosibirsk hält ein Schild mit der Aufschrift "Protest". © imago images / ITAR TASS / Kirill Kukhmar
Von Eva Marlene Hausteiner · 24.01.2021
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Fasziniert schaut die Welt auf Alexej Nawalnys Rückkehr nach Moskau. Für viele ist er ein Held, ein Mann von Tat und Tugend. Doch was ihn zur Ausnahmegestalt macht, ist sein Einsatz für Ziele, die ihn selbst übersteigen.
Warum, so hörte man allenthalben, macht Nawalny so etwas? Weshalb begibt er sich freiwillig in den Gewahrsam jener Mächte, die erst vor kurzem seine Vergiftung veranlassten oder zumindest duldeten? Ist es ein PR-Trick, um sein persönliches Prestige noch mehr aufzuwerten – oder ein strategischer Schachzug gegen Putin?

Nawalny - der "Russian Hero"?

Die Antwort der britischen Zeitung "London Times" lautet einfach: Nawalny ist ein "Russian Hero", Mut und Durchhaltevermögen seine Tugenden. Ein solches Lob des Heldentums aber wirft Fragen auf: Leben wir nicht angeblich im "postheroischen" Zeitalter, in dem wir keine Helden mehr brauchen?
In der Tat: Folgt man einem traditionellen Heldenbild, so ist der Held ein Mensch – meist ein Mann – der Tat. Er setzt alles aufs Spiel für Ruhm und Ehre, potenziell aber auch für das Gemeinwohl. Held oder Heldin wird man durch heroisches Handeln, das von anderen – zum Beispiel der Nachwelt – als heldenhaft anerkannt wird.

Mit Helden ist kein Staat zu machen

Dieses Prinzip Held aber verträgt sich, so die jüngere Debatte, schwer mit demokratischen Gleichheits- und Stabilitätsprinzipien. Die liberale Demokratie ist laut Historiker Herfried Münkler nicht nur im Militärischen postheroisch: Sie benötigt aktive Bürger und Bürgerinnen in rauen Mengen, nicht singuläre Ausnahmeakteure. Sie beruht auf Gleichheit, auf geregelten Verfahren, nicht auf der Personalisierung des Politischen.
Eva Marlene Hausteiner 
Eva Marlene Hausteiner arbeitet am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.© David Elmes
Politischen Ausnahmefiguren, die etwas Heldenhaftes haben – dem "uomo virtuoso" des Machiavelli, der charismatischen Führergestalt Max Webers – ist also mit einer gewissen Vorsicht zu begegnen, und die moderne Demokratietheorie tut dies auch. Mit Ausnahmepersonen ist kein Staat zu machen, wenn man davon ausgeht, dass breite Partizipation und Deliberation zentrale Grundpfeiler eines vitalen Gemeinwesens sind. Zivilcourage, nicht Heldenmut ist die Währung der Demokratie. Was aber, wenn keine vitale Demokratie vorhanden ist?

Das Land der Männer-Helden

Nicht alle politischen Gemeinschaften sind gleich, oder gleich postheroisch. Die russische Gesellschaft ist in vielerlei Hinsicht von Heldenidealen durchzogen: Das superpräsidentielle System ist gerade jüngst "super-personalisiert". Militärische Männlichkeits-Ideale spielen eine große Rolle in der politischen Kommunikation; und der höchste Ehrentitel, den man, ganz in sowjetischer Tradition, erringen kann, heißt: Held der Russischen Föderation.
Wer kann solche autoritären, recht traditionellen Verhältnisse besser aufbrechen als ein Held? Jemand, der Risiken eingeht und alles aufs Spiel setzt – nicht allein für sich selbst, sondern das große Ganze.

Nawalny als Putins Voldemort

Nawalny ist offenbar in den Augen des Kreml bereits eine Ausnahmegestalt: Dafür sprechen nicht nur Anschläge und Verhaftungen, sondern auch die Tatsache, dass Putin seinen Namen niemals ausspricht – er ist seine Nemesis, sein Voldemort, der offenbar ohnehin schon viel zu disruptiv wirkt.
Auf einer verschneiten Straße haben sich Männer, Frauen und Kinder zu einer Protestkundgebung versammelt. Ein Mann hält ein Plakat mit dem Porträt des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny hoch.
In der Bewegung liegt die Kraft: Proteste von Unterstützern Alexej Nawalnys Mitte Januar in der Nähe von Moskau.© picture alliance / dpa / Sputnik / Alexey Filippov
Das unterbrechende Potenzial, das traditionell dem Helden zugeschrieben wird, kann in Konstellationen der Unterdrückung und Unfreiheit – also in Abwesenheit der Grundbedingungen gleicher und freier politischer Partizipation – durchaus gefragt sein. In autoritären Umständen können Heldinnen und Helden aufrütteln und mobilisieren.

Auf zu heldenhaften Demokratie-Bewegungen!

Personale Fokussierung birgt aber im Politischen immer auch Risiken und Nebenwirkungen. Welche Helden also brauchen wir? Müssen es immer einzelne Männer der Tat sein? Nawalnys Strategie zeigt, dass er die Fallstricke des Heldentums erkannt hat. Er nutzt die mediale Öffentlichkeit nur maßvoll für die eigene Inszenierung – und versucht stattdessen seit Jahren, eine breite Demokratiebewegung in Russland zu fördern.
Auch jetzt ruft er zu Protesten auf – aber nicht im Dienste seiner eigenen Freilassung, sondern für langfristige politische Ziele. Direkt aus dem Gefängnis postet er neue Videos zur Korruptionsenthüllung. Heroische Akte können auch von Kollektiven, von Bewegungen vollbracht werden, wie der Anthropologe David Graeber es nach der Finanzkrise für Occupy Wall Street reklamierte. Mit solchen Heldinnen und Helden kann vielleicht auch ein demokratisierender Heroismus gelingen.
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