Kommentar zu Gewalt gegen Schiedsrichter

Unparteilichkeit erscheint immer verdächtig

04:52 Minuten
Der Schiedsrichter zeigt am 14.03.2015 bei einem Fußballspiel in eine gelbe Karte.
Wo das Lagerdenken sich verschärft, ist er auf verlorenem Posten: der Schiedsrichter. © picture alliance / dpa / Daniel Reinhardt
Von Arnd Pollmann · 03.11.2019
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Vergangene Woche streikten im Berliner Amateurfußball die Schiedsrichter, um gegen die Zunahme gewaltsamer Übergriffe zu protestieren. Zugleich schrumpft die politische "Mitte". Beide Entwicklungen hätten miteinander zu tun, kommentiert Arnd Pollmann.
Als das Fußball-Genie Lothar Matthäus einst gefragt wurde, was er nach seiner aktiven Zeit zu tun gedenke, gab er zur Antwort: "Schiedsrichter kommt für mich nicht in Frage, schon eher etwas, das mit Fußball zu tun hat". Sportler haben oft – ebenso wie viele Fans – ein gespaltenes Verhältnis zu den sogenannten Unparteiischen: Man weiß um deren Unentbehrlichkeit, regt sich aber ständig über ihre "Blindheit" auf.

Der Leviathan des Sports

Allerdings resultiert die Wut, die sich in letzter Zeit verstärkt und eruptiv in vielen Sportarenen entlädt, gerade nicht aus dem Umstand, dass Unparteiische "nur Mist pfeifen". Vielmehr geht dieser Hass darauf zurück, dass Schiedsrichter in aller Regel sehr viel richtig machen.
Drei Dinge sind es, die den Schiri kennzeichnen. Erstens: dessen absolute Entscheidungsgewalt. Oder frei nach Thomas Hobbes: Zur Überwachung eines potenziell kriegerischen Spielverlaufs braucht man einen mit äußersten Vollmachten ausgestatteten "Leviathan", dem sich die Untertanen zwar freiwillig, aber doch bedingungslos unterwerfen müssen. Des Schiris Pfeife kann das Spiel nicht nur beeinflussen, sondern entscheiden – was aus Sicht vieler Fans geradezu unverzeihlich scheint.

Wer nicht für uns ist, ist gegen uns

Zweitens: Der Schiedsrichter erhält einen Freibrief, der selbst noch die Unfehlbarkeit des Papstes in den Schatten stellt. Mag der Pontifex auch letzte Instanz in Glaubensfragen sein, Schiedsrichter treffen "Tatsachenentscheidungen". So wie sie entscheiden – so war es dann auch. Philosophisch betrachtet, ist das geradezu irrwitzig.
Arnd Pollmann schaut freundlich in die Kamera.
Ärger mit der Unfehlbarkeit: In einer polarisierten Gesellschaft sind auch Urteile von Schiedsrichtern besonders heftig umstritten, meint Arnd Pollmann.© privat
Schwerer aber noch wiegt die dritte Eigenschaft: die eigentliche Unparteilichkeit. Schiris müssen – wie auf Knopfdruck – von Sympathien und Antipathien absehen, sich tatsächlich "blind" stellen und nur das Regelwerk sehen. Auf Fans wirkt das abstoßend: Es scheint dem Referee egal zu sein, wer gewinnt. Wie kann das sein? Wer derart unparteiisch ist, ist offenkundig nicht für "uns" – und damit "gefühlt" für den Gegner. "Alle Schiedsrichter sind Verräter", hat der Schriftsteller Eduardo Galeano einmal gesagt.

Unparteilichkeit erscheint verdächtig, auch in der Politik

Damit erinnert das Verhältnis der Fans zum Schiedsrichter nicht zufällig an die vielzitierte "Politikverdrossenheit", ja, den derzeit anschwellenden Hass auf die Repräsentanten liberaler Demokratie. Während nämlich das Schiedsrichter-Team im Spiel für Gerechtigkeit sorgen soll, ist es die ureigene Aufgabe der Regierung, dies im Ernst und im gesellschaftlichen Großmaßstab zu tun. Zwar mögen die sogenannten "Parteien" schon aus begrifflichen Gründen gar nicht unparteiisch sein, Regierungen aber sollten genau dies versuchen. Jedenfalls in liberalen Rechtsstaaten. Niemand soll willkürlich bevorzugt oder benachteiligt werden.
Damit sind wir bei einer Zeitdiagnose angelangt, die am letzten Wahlsonntag neuerlich bestätigt wurde: Die politische "Mitte" geht verloren. Ähnlich wie im Fußballstadion tobt derzeit auch in den aufgeheizten Arenen einer vielfach gespaltenen Öffentlichkeit ein erbitterter Wettkampf, in dem jede Form von Unparteilichkeit zutiefst verdächtig erscheint: Wer gern hetzt, will andere in Schubladen stecken, wer sich aber partout auf keine Seite schlagen will, passt in keine Schublade hinein. Vor allem die maulheldenhaften Hooligans im rechten Lager sehnen sich nach einer neuen Politik der Drastik, in dessen Lichte die moderate Mitte als dekadent, verweichlicht und dem Untergang geweiht erscheint.

Zeit für politische Platzverweise

Der Erfolg der AfD wird gern auf Ängste vor sozialem Abstieg oder islamischer Zuwanderung zurückgeführt. Vielleicht aber resultiert der Hass auf die "Alt-Parteien" vor allem daraus, dass diese Parteien zu sehr in die großkoalitionäre Mitte gerückt sind und sich keine echte Parteilichkeit mehr zutrauen. Wenn es derart langweilig wird, erwachen Sehnsüchte nach rechthaberischem Krawall. Trotzdem wird es Zeit, dass die Schiedsrichter des liberalen Rechtsstaates jene demokratiefeindlichen Regelverletzer endlich des Feldes verweisen.

Arnd Pollmann schreibt Bücher über Integrität und Unmoral, Menschenrechte und Menschenwürde. Er ist Professor für Ethik und Sozialphilosophie an der Alice Salomon Hochschule Berlin und Mitherausgeber des philosophischen Online-Magazins Slippery Slopes.

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