Kommentar zum Geheimdienst

Plädoyer für die Abschaffung des Verfassungsschutzes

Illustration eines Mannes als Silhouette, der durch ein Fernglas schaut, auf dem sich Zielscheiben befinden
Eine Oppositionspartei beobachten zu lassen sei immer eine politische Entscheidung, meint Ronen Steinke. Statt Geheimagenten loszuschicken, sei es besser, zu argumentieren. © imago / Ikon Images
Ein Einwurf von Ronen Steinke · 29.06.2023
Der Verfassungsschutz muss die freiheitliche demokratische Grundordnung in Deutschland sichern. Doch der Geheimdienst schwäche die liberale Demokratie und gehöre abgeschafft, meint Ronen Steinke. Er macht das an der Beobachtung der AfD fest.
Es wird Sie vielleicht überraschen, liebe Hörerinnen und Hörer, dass ein Jurist und leidenschaftlicher Anhänger unseres liberalen Rechtsstaats, der nichts mehr verachtet als den Rassismus in der AfD, den Antisemitismus und den Antifeminismus in dieser Partei, dass ein Jurist wie ich also dennoch sagt: Es gibt einen Punkt, da hat die AfD derzeit nicht ganz Unrecht. Ich will das erklären.
Die AfD beklagt, dass sie neuerdings vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Sie beklagt, das sei undemokratisch. Das sei politisch motiviert. Sie kritisiert, dass sie von diesem Inlandsgeheimdienst gebrandmarkt werde, öffentlich. Und dass auf diese Weise die Regierung, die diesen Verfassungsschutz steuert, den Beamtenapparat nutzt, um in den politischen Wettbewerb einzugreifen.

Beobachtung der AfD ist eine politische Entscheidung

Nun kann man finden, und ich schließe mich da ein, dass es mit der rechtspopulistischen AfD nun immerhin keinen Falschen trifft. Aber es ist doch erstaunlich, dass wir in einem Land leben, in dem derzeit die Regierung so etwas relativ frei entscheiden kann. Die juristischen Vorgaben, wer vom Verfassungsschutz beobachtet werden darf, sind sehr locker.
Und ja: Es ist eine politische Entscheidung. Immer. Sie wird vom Innenministerium gesteuert. Oft bis ins Detail.
Das ist bemerkenswert: In unserem Staat hat die Regierung die Möglichkeit, mit hoheitlicher Macht festzulegen, welche Oppositionsgruppe – wohlgemerkt: legale Oppositionsgruppe – noch okay ist und welche nicht.
Und wenn sie findet, dass eine Gruppe nicht okay sei, dann kann sie Geheimdienstler losschicken, sie zu bekämpfen. Mit klandestinen Mitteln, mit den Mitteln der Verunsicherung, der Überwachung – und der öffentlichen Brandmarkung.
Dass eine Regierung mit Hilfe eines Geheimdienstes gegen politische Gruppen vorgehen kann, selbst wenn diese sich gesetzestreu verhalten – das ist etwas, das in autoritären Regimen natürlich Gang und Gäbe ist. In Demokratien aber eher nicht.

Verfassungsschutz war nie neutrale Instanz

Der deutsche Verfassungsschutz war nie eine neutrale Instanz. Steht das einer liberalen Demokratie gut zu Gesicht? Oder – die Frage muss man stellen, meine ich – schwächt das unsere Demokratie nicht viel eher?
Diese Frage ist hochaktuell, allein schon deswegen, weil unsere Demokratie fragiler geworden ist. Demokratie, verstanden als freier – auch angstfreier – politischer Diskurs kann von verschiedener Seite abgewürgt werden. Auch – natürlich - von der Seite des Staates, wenn dieser überzieht.
Die Frage ist aber auch deshalb hochaktuell, weil der Verfassungsschutz gerade massiv gewachsen ist. Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, hat sich die Zahl seiner Agenten in den vergangenen zwanzig Jahren verdoppelt. Diese beobachten nicht nur Rechtspopulisten, sondern überwachen auch Klimaaktivisten, die sich klar zu demokratischen Grundwerten bekennen.
Es gibt in Deutschland klare gesetzliche Grenzen der Meinungsfreiheit. Es gibt Paragrafen gegen Volksverhetzung, gegen rassistische Beleidigung, gegen die Verbreitung von Nazipropaganda. Natürlich auch gegen politisch motivierte Gewalt. Diese Paragrafen sind scharf, und sie sollten unbedingt auch genutzt werden.

Geheimagenten sollten nicht ins politische Geschehen eingreifen

Aber: Wo sich politische Gruppen – ob sie einem gefallen mögen oder nicht – an die Gesetze halten und den politischen Status quo lediglich mit Worten und mit legalen Mitteln herausfordern, dort muss die Antwort eine offene, eine politisch-argumentative sein. Und nicht, dass die Regierung Geheimagenten losschickt, die im Dunkeln agieren und ins politische Geschehen eingreifen.
Dieser Geheimdienst – auch wenn er den so schönen Namen Verfassungsschutz trägt – schützt nicht die liberale Demokratie. Er schwächt sie. Es wäre besser, auf ihn zu verzichten. Ganz zu schweigen von der Schreckensvorstellung, was wäre, wenn ein solches Instrument wie der Verfassungsschutz einmal der AfD in die Hand fiele.

Ronen Steinke ist Redakteur und Autor der Süddeutschen Zeitung. Er ist promovierter Jurist, Dozent an der Deutschen Richterakademie und Mitglied im Kuratorium des Max-Planck-Instituts für die Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht. Im Berlin Verlag erschienen zuletzt Verfassungsschutz. Wie der Geheimdienst Politik macht (Juni 2023) und der Bestseller Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz (2022). Seine 2013 veröffentlichte Biografie über Fritz Bauer, den mutigen Ermittler und Ankläger der Frankfurter Auschwitz-Prozesse, wurde mit Der Staat gegen Fritz Bauer preisgekrönt verfilmt und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Ronen Steinke lebt mit seiner Familie in Berlin.

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