Psychiatrie

Kommentar: Mehr Mitbestimmung für die Patienten

04:37 Minuten
Illustration eines Mannes, der sein Gesicht mit den Händen verdeckt
Kameraüberwachung, Fixierung am Bett, erzwungene Einsamkeit: Psychiatrieerfahrene fordern mehr Selbstbestimmung in psychiatrischen Kliniken. © picture alliance / Zoonar / Elada Vasilyeva
Ein Kommentar von Lea De Gregorio · 29.04.2024
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Die Zeiten, in denen psychiatrische Kliniken als Orte des Grauens wahrgenommen wurden, sind vorbei. Dank der Psychiatriereform in den 70er-Jahren verbesserte sich vieles. Doch noch immer liege einiges im Argen, kritisiert die Autorin Lea De Gregorio.
In Psychiatrien können Menschen gegen ihren Willen festgehalten werden, auch dann, wenn sie sich in psychischen Zuständen, die nicht der Norm entsprechen, völlig freiwillig an eine Klinik wenden. Psychiater:innen können ihnen unter Zwang Substanzen verabreichen, die ihr Fühlen und Verhalten verändern. Menschen können fixiert, also an ein Bett gebunden und an dem fremden Ort allein gelassen werden. Sie können in Räumen untergebracht werden, in denen Kameras sie Tag und Nacht überwachen.

Fremden Menschen ausgeliefert

Ich habe selbst erlebt, wie ich mich in eine psychiatrische Klinik begeben habe, und dort nicht bleiben wollte: wegen des Paternalismus und Zwangs, der mir sofort ins Auge sprang. „Hier werden Menschenrechte verletzt!“, dachte ich. Letztlich wurde ich wegen angenommener Selbstgefährdung trotz meiner Ambivalenzen zum Bleiben gezwungen.
Besonders geschockt war ich, als ich auf einem Bildschirm sah, wie ein Mädchen, das sich in einem sogenannten Überwachungsraum befand, am Empfang nicht nur von dem Pflegepersonal, sondern auch von den anderen Patienten beobachtet werden konnte.
Psychiatrien, dachte ich, seien Orte, in denen Menschen in überfordernden, psychischen Ausnahmesituationen geholfen wird, dienten dem Wohl dessen, was wir Seele nennen. Und ich wäre – auch angesichts meiner eigenen Krisenerfahrungen – die Letzte, die Orte, an denen Menschen in Krisen geholfen wird, abschaffen will.
Doch harmlos sind diese Behandlungsmethoden nicht. In einem Factsheet der Monitoringstelle UN-Behindertenrechtskonvention des Deutschen Instituts für Menschenrechte heißt es: „Diese Maßnahmen sind erhebliche Eingriffe in die körperliche und seelische Unversehrtheit sowie in die Freiheit und Autonomie eines Menschen.“

Krasses Machtgefälle in Psychiatrien

Begründet wird die Machtausübung teils mit vermuteter Fremdgefährdung, häufiger jedoch damit, dass die Behandlung der Gesundheit der Patient:innen dient. Aber schon Statistiken zeigen, dass die Anwendung von Zwang nicht alternativlos ist, denn es gibt hier signifikante Unterschiede zwischen Bundesländern und einzelnen Kliniken. Es geht also auch anders.
Über das Machtgefälle in Psychiatrien wird in der Öffentlichkeit selten gesprochen, geschweige denn nach Alternativen zu Zwangsmaßnahmen gesucht. Eine breite psychiatriekritische Bewegung, gibt es – anders als in den 1970er-Jahren – nicht.

Betroffene fordern mehr Selbstbestimmung

Es sind vor allem Betroffenenorganisationen wie der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener, die heute dafür plädieren, dass Menschen selbstbestimmter über ihre Behandlung entscheiden sollten. Gehört werden diese Stimmen selten, und das hat auch damit zu tun, dass sich die Psychiatrie heute vor allem als Naturwissenschaft versteht.
Für psychische Erkrankungen werden entweder genetische, neurologische oder biochemische Ursachen gesucht – und dafür gelten Ärztinnen und Ärzte als alleinige Experten. Selten werden dagegen jene Menschen nach ihren Deutungen befragt, die psychische Ausnahmesituationen und psychiatrische Maßnahmen selbst erlebt haben. Dass andere die alleinige Deutungshoheit über den eigenen psychischen Zustand haben – das verstärkt die Erfahrung von Ohnmacht.
„Diagnosen zu Seifenblasen“, lautete ein Slogan auf dem Wagen der Mad Pride 2023 in Berlin, wo psychiatrieerfahrene und behinderte Menschen angelehnt an die Idee der „Gay Pride“ Sichtbarkeit gewinnen wollen.
Es sind nicht alle, die so denken. Einige Psychiatrieerfahrene identifizieren sich mit Diagnosen und sprechen selbst von „psychischer Störung“. Anderen ist es dagegen wichtig, zu betonen, dass gesellschaftliche Faktoren zu psychischen Herausforderungen beitragen und Menschen unterschiedlich sind; vielleicht auch, dass ihre Krisenreaktionen einen Sinn hatten.
Der Philosoph Charles Taylor hat einmal Autonomie als Kernelement der Menschenrechte beschrieben. Wir sollten sie auch Psychiatriepatient:innen so weit wie möglich zugestehen.

Lea De Gregorio (*1992) lebt als freie Journalistin und Schriftstellerin in Berlin. Im März 2024 erschien ihr Buch "Unter Verrückten sagt man Du" im Suhrkamp-Verlag.

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