Prokrastination

Chronisches Aufschieben kann krank machen

04:12 Minuten
Auf der Illustration kauert ein Mädchen in seinem Kopf.
Wer regelmäßig aufschiebt, scheitert nicht an Faulheit, sondern an sich selbst. Doch Prokrastination ist kein individuelles Versagen, sondern strukturell bedingt. © imago / Ikon Images / John Holcroft
Ein Kommentar von Hannah Schragmann |
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Ständiger Druck, Selbstüberforderung und Versagensangst führen bei vielen jungen Menschen zu chronischem Aufschiebeverhalten. Die Folge ist noch mehr Stress. Wer ständig alles vor sich herschiebt, kann krank werden. Doch es gibt Hilfe.
Kennen Sie das? Eigentlich wollte man längst anfangen: mit der Steuer, der Hausarbeit, dem neuen Projekt. Stattdessen landet man auf Instagram, schaut noch ein YouTube-Video oder verliert sich in WhatsApp-Chats. Digitale Ablenkung ist immer nur einen Klick entfernt und lädt geradezu dazu ein, Dinge aufzuschieben.
Die meisten tun das hin und wieder. Harmlos, denken wir. Doch wenn das Aufschieben zum Dauerzustand wird, kann es belasten. Fachleute sprechen dann von Prokrastination und die kann krank machen.
Doch was genau bedeutet dieses sperrige Wort überhaupt? Prokrastination: Der Begriff stammt vom lateinischen pro cras – „für morgen“. Gemeint ist das chronische Aufschieben wichtiger Aufgaben, obwohl man weiß, dass es negative Folgen haben könnte. Man handelt also eigentlich gegen das morgige Ich. 
Antikrastination wäre demnach vielleicht der passendere Begriff. Im Volksmund wird Prokrastination auch gern als „Aufschieberitis“ verniedlicht – was nach einer harmlosen Marotte klingt.

Prokrastination als Form von Selbstsabotage

Doch das greift zu kurz. Denn wer regelmäßig aufschiebt, scheitert nicht an Faulheit, sondern an sich selbst.
Prokrastination ist eine Form der Selbstsabotage. Und kann krank machen. Besonders Studierende sind betroffen: Laut einer Studie der Uni Münster prokrastinieren nur zwei Prozent nie – und ein Zehntel so stark, dass es ernsthafte Probleme verursacht. Denn mit jedem Tag wächst die Angst zu versagen. Statt für das morgige Ich zu handeln, legt man ihm einen Berg in den Weg, der irgendwann kaum noch zu bewältigen scheint.
Die Folgen: Scham, Schlafstörungen, Selbstzweifel. Und vor allem: steigender Stress. Und das in einer sowieso schon gestressten Gesellschaft: Mitte 2023 hatten sich bereits so viele Versicherte aufgrund von Stress krankgemeldet wie im gesamten Jahr zuvor. Über die Hälfte der Betroffenen leidet unter Nervosität, Erschöpfung, Schlafproblemen. Der häufigste genannte Grund für den Stress ist der hohe Selbstanspruch – besonders bei jungen Menschen.
Fast zwei Drittel der 18- bis 34-Jährigen geben an, sich vor allem selbst unter Druck zu setzen. Dahinter steht oft das Ideal, stets produktiv sein zu müssen. Chronisches Prokrastinationsverhalten ist also durch Versagensangst und hohen Selbstanspruch bedingt und löst zugleich Stress und noch mehr Druck aus.

Studierende leiden häufig unter Stress und Depressionen

Dass gerade Studierende so häufig betroffen sind, ist kein Zufall. 73 Prozent fühlen sich laut einer Studie der Techniker Krankenkasse regelmäßig gestresst. Über 50 Prozent klagen über Schlafprobleme, ein Drittel zeigt depressive Symptome. Pandemie, Einsamkeit, finanzielle Unsicherheit – all das hat Spuren hinterlassen. Und: Nie war die Freiheit, sich selbst zu verwirklichen, so groß. Aber auch nie so überfordernd.
Wir sollen effizient, kreativ, resilient sein, aber nie schwach. Zwischen grenzenloser Freiheit und ständigem Vergleich wird das Selbst zur Dauerbaustelle. Früher kämpfte man gegen äußere Hürden. Heute oft gegen sich selbst.
Immer mehr Universitäten eröffnen deshalb Prokrastinationsambulanzen. Die erste startete 2013 in Münster. Über 500 Studierende wurden dort bereits behandelt. Auch in Berlin, Aachen oder Tübingen gibt es mittlerweile Workshops, Beratungen, oder Gruppenangebote. Das zeigt: Prokrastination ist kein individuelles Versagen, sondern ein strukturelles Phänomen unserer Zeit.
Was lernen die Studierenden dort? Weniger Perfektion. Mehr Pausen. Kleine Schritte statt großer Blockaden. Und: Erkennen, dass man nicht allein ist. Dass es kein Aufgeben ist, den Druck herauszunehmen, sondern ein Akt der Selbstfürsorge. Für das heutige Ich. Und das morgige.


Hannah Schragmann forscht als promovierte Wirtschaftsethikerin und Philosophin zum Thema Produktivität und neuen Ansätzen der (Re)produktivitätsbewertung, insbesondere im Arbeitskontext. Sie ist zudem aktiver Teil der Führungsebene von zwei Impact Start-Ups, die Purpose ins Zentrum stellen und den Umbau hin zu reproduktiven Wirtschaftsformen fördern. Die Frage, wie Ökologie, Ökonomie und der Mensch bzw. Sinn gemeinsam betrachtet werden können, steht für sie im Zentrum ihres Tuns.

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