Meinung

Die neue Unsachlichkeit – Fixiert auf das Ausgedachte

04:32 Minuten
Lotte Lasersteins Gemälde „Abend über Potsdam“ aus dem Jahr 1930 hängt in einer Ausstellung in Berlin.
Alles schon mal da gewesen? Inspiriert wurde Matt Aufderhorst bei der Beschreibung des Epochentitels „Neue Unsachlichkeit“ von Lotte Lasersteins Gemälde „Abend über Potsdam“. © picture-alliance / Eventpress Herrmann / Eventpress Herrmann
Von Matt Aufderhorst · 29.02.2024
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Unsere Gegenwart sei eine Epoche der Verschwörungsmythen und Falschinfos, so der Autor Matt Aufderhorst. Ihr Kennzeichen: Eine Denkweise, in der nur eigene Ansichten zählten. Doch es gibt Mittel gegen die Hyper-Subjektivität.
Das Abendmahl auf der Leinwand ist karg. Einige Äpfel, einer aufgeschnitten. Brotkrusten, mit der Hand gebrochen, ohne Butter. Eine größere fahle Birne, eine kleine rote. Über der Stadt hängt eine graue Unwetterwand, die dem weißen Wolkenband am Horizont den Garaus macht. Es wird getrunken. Flaschen stehen unter einem Stuhl. Zwei Männer und eine Frau sitzen an der Tafel, sie trägt ein leuchtend-gelbes Oberteil, es ist Spätsommer. Zwei Frauen stehen. Alle fünf starren ins Nichts. Melancholie regiert. Schutz vorm aufziehenden Sturm? Hier, auf der Dachterrasse mit dem Panoramablick, gibt es ihn nicht.

Ein Werk mit visionären Zügen

Der Begriff "Neue Unsachlichkeit", auf Englisch New Subjectivity, kam mir als Bezeichnung für unsere Epoche in den Sinn, während ich Lotte Lasersteins Gemälde „Abend über Potsdam“ betrachtete. 1930 gemalt, während der Blütezeit der schnörkellosesten Kunstrichtung der Weimarer Republik – der Neuen Sachlichkeit.
Lasersteins ungeschönte Darstellung eines letzten Abendmahls hat – mit Blick auf den Aufstieg der boshaft-unsachlichen Nazis – visionäre Züge. Auch für die Malerin selbst. Sie musste Deutschland 1937 verlassen, überlebte in Schweden. Der Versuch, ihre Mutter, die Jüdin war, zu retten, scheiterte. Meta Laserstein wurde 1943 im KZ Ravensbrück ermordet.
Ich habe mich – ein tiefes Erschrecken – in dem Bild erkannt. Sehe meinen Berliner Freundeskreis, der aus aller Welt stammt. Wir wissen derzeit weder ein noch aus. Zwar zeigen wir unsere demokratische Sachlichkeit auf Demonstrationen, was die Schlüsselfiguren der Neuen Unsachlichkeit allerdings nur als Bestätigung ihrer Verschwörungsweltsicht auslegen.
Ja, mir ist klar, dass wir nicht – schon gar nicht global – in einer mit der Weimarer Republik vergleichbaren Epoche leben. Aber dass eine weitsichtige Gesellschaftskritik, wie in Lasersteins Bild, weder den Aufstieg der NSDAP noch Hitlers sogenannte „Machtergreifung“ verhindern konnte, macht mich unsicher. Das bloße Wissen, die Entlarvung haben nicht gereicht. Ich fürchte, dass wir offenen Auges in die Katastrophe taumeln.
Natürlich hat der Vernunftgedanke nicht ganz und gar abgedankt. Aber die Neue Unsachlichkeit verdeutlicht die frappierende Fixiertheit unserer Zeit auf das schlichtweg Ausgedachte. „Neu“ ist sie in dem Sinne, dass ihr Schadenspotenzial größer denn je ist. Es handelt sich um eine Hypersubjektivität. Eine Denkweise, in der für erstaunlich viele nur die eigenen Ansichten zählen.

Diejenigen, die das Chaos später beklagen, haben es selbst kreiert

Die treibenden Kräfte der Neuen Unsachlichkeit haben sich jahrelang angeschlichen: im Internet Lügenmärchen verbreitet, den Klimawandel geleugnet, haben Gruppen von Gleichgesinnten geschaffen, sich Waffen besorgt. Das Widersprüchlichste an ihnen ist, dass sie selbst das Chaos kreieren, das sie dann beklagen und autoritär beheben wollen.
Nun, da die Neue Unsachlichkeit sich weltweit in Parteiform gegossen hat, wird es endlich Zeit zum aktiven Widerstand. Das Gute ist: Wir besitzen, wenigstens in Deutschland, demokratische Werkzeuge, vom Verfassungsgericht bis zum Verfassungsschutz, die wir einsetzen können.
Machen wir unsere freiheitliche Republik attraktiver und größer, nicht giftiger und kleiner. Mehr BürgerInnenräte wären gut, landauf, landab. Die Wahl pro-europäischer Parteien hilft. Wir brauchen mehr Menschen, die Deutschland auf Dauer oder vorübergehend zu ihrer Heimat machen wollen. Ein Land, das sich abschottet, verliert an Strahlkraft – ein Blick nach Großbritannien, das den Brexit bereut, sollte genügen.
Gegen die Lügen der Neuen Unsachlichkeit hilft die wehrhafte Wahrheit. Zwingen wir das undemokratische Unrecht mit dem demokratischen Recht in die Knie. Ein Abwarten auf Dachterrassen, bis der Sturm uns erwischt? Nicht mit uns!

Matt Aufderhorst ist 1965 in Hamburg geboren. Er ist Radio- und Fernsehjournalist und Mitbegründer von „Authors for Peace“. Er studierte Kunstgeschichte und Deutsche Literatur. Seine Essays über Architektur und Erinnerung sind unter anderem in „Lettre International“ und „WOZ“ erschienen. 

Porträtaufnahme des Journalisten Matt Aufderhorst
© Ali Ghandtschi
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