Kommentar zu Lokaljournalismus

Positive Berichterstattung für eine launische Gesellschaft

04:21 Minuten
Zwei ältere Zeitungsleser stehen vor einem Aushang des "Südkurier" aus Überlingen
Viele Leserinnen und Leser von Lokalblättern wollten nur noch Positives über ihre Region lesen, meint die Soziologin Barbara Thériault © IMAGO / Wolfgang Maria Weber / IMAGO
Ein Einwurf von Barbara Thériault |
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Journalismus bedeutet zunehmend Arbeit an der guten Stimmung, wenn er gelesen werden will, meint die Soziologin Barbara Thériault zu beobachten. Das schaffe ein „Untersichsein“ und ein Heimatgefühl bei den Leserinnen und Lesern.
Sechs Uhr morgens, Montreal. Ich erhalte per E-Mail ein Nachrichtenbulletin von meiner Universität. Drei Themen täglich. Ich lese das erste: „Auch die Mitarbeiter spüren die Aufregung des Semesterbeginns!“ Der Autor hat ein Ausrufezeichen ans Ende des Titels gesetzt. Dazu ein Foto: Ein lächelnder Mitarbeiter im Uni-T-Shirt unterhält sich mit einem Studenten.
Sofort bin ich an die Zeitung in Thüringen erinnert, bei der ich im Sommer für die Lokalredaktion gearbeitet habe. „Titel, Ton und Ästhetik sind auffallend ähnlich“, denke ich mir und komme nicht umhin, die Aussage anzuzweifeln: Freuen sich die Mitarbeiter wirklich darauf, wieder an die Arbeit zu gehen?

War die Stimmung wirklich so gut?

Der Sommer 2024 in Thüringen war regnerisch und hatte seinen Namen nicht verdient. Viele Artikel – zum Beispiel Berichte über Stadtfeste und Konzerte – trugen Titel wie „Gute Stimmung trotz Regen“. Ein Satz wie „Der Himmel trübt sich ein, die Stimmung nicht“ ist ein typisches Beispiel, bei dem allerdings auch Zweifel entstehen konnten: War die Stimmung so gut? Jedenfalls stellte sich eine überraschende Verbindung zwischen Kanada und Deutschland, zwischen Universität und Kleinstadt her.
Ich rief beim Autor des Textes im Nachrichtenbulletin der Universität in Montreal an und verabredete mich mit ihm in der Mensa. „Ich habe deinen Text von heute Morgen gelesen und wurde sofort an Artikel aus deutschen Lokalzeitungen erinnert“, sagte ich. „Zu Semesterbeginn sprechen wir die Studierenden an, fangen die Stimmung ein“, erklärte er. „Mit solchen Texten bekommen wir viele Klicks! Das ist aber kein Journalismus“, wiegelte er noch ab, „denn wir schreiben nur über positive Dinge.“

Die Kunst, das Positive hervorzuheben

Da, wo viel gemeckert und negativ geredet wird – sei es an der Universität oder in der kleinen Stadt in Thüringen vor einer wichtigen Landtagswahl – kann man sich stets auf die Campus- oder die Lokalzeitung als Stimmungsaufheller verlassen. Sie beherrschen die Kunst, das Positive hervorzuheben. Gegen eine herrschende, schlechte Grundstimmung beteuert die Lokalzeitung die Schönheit der Region, lobt Schwimmbadfeste und Karnevalsvereine, setzt kleine Denkmäler, schmeichelt dem Stolz der Leserschaft, verdichtet Beziehungen untereinander und vermittelt ein: „Wir existieren!“
Sie schafft ein „Untersichsein“, eine Gesellschaft von Lesern. Das ist: Heimat! Ohne es unbedingt zu beabsichtigen, ist sie die Heimatzeitung. Diejenigen, die die Zeitung nicht lesen, aber dennoch zur Region gehören, sind nur bedingt Teil dieses Bildes und haben keine eigene Stimme. Zwischen Journalist und Lesern besteht dabei eine stillschweigende Übereinkunft darüber, was als richtig gilt. „Das schreiben Sie nicht, das will ich nicht erwähnt haben!“, waren Sätze, womit meine Interviewpartner, als ich als Reporterin unterwegs war, sich mir anvertrauten und mich zugleich bedrohten.
Als ich – oft unabsichtlich – nicht positiv genug über Menschen oder die Region berichtete, wurden meine Texte mit dem Argument: „Wir kennen unsere Leute!“ von der Redaktion geändert, „entschärft“, hieß es, … als ob es sich um eine Bombe handelte! Was hatte ich geschrieben? Dass eine Sängerin Playback gesungen hatte? Oder dass Männer ihre Arbeit langweilig fanden. Und ja, die Leser können gnadenlos sein: Sie schreiben Briefe und E-Mails; einer stürmte sogar einmal wütend in die Redaktion.

Die Lokalzeitung als Stimmungsaufheller

Ich wollte an besagtem Morgen das Thema „Nachrichtenbulletin und Lokaljournalismus“ mit meinem Mitbewohner besprechen, der ebenfalls an der Universität angestellt ist. Bevor ich meine Gedanken ausführen konnte, unterbrach er mich: „Ich bekomme auch das Bulletin. Kann man es abbestellen?“ Mit einem Satz hatte er das ganze Problem lapidar umrissen: die Notwendigkeit von Journalismus, von nicht nur positiver Berichterstattung und Offenheit bei einer oft launischen Gesellschaft von Lesern, die stets droht, ihr Abonnement zu kündigen – und damit die schon fragile Existenz der Lokalzeitungen infrage stellt.

Barbara Thériault ist Professorin für Soziologie an der Universität Montreal und forscht regelmäßig in Ostdeutschland. Dabei arbeitet sie als teilnehmende Beobachterin, etwa als Journalistin oder Friseurin. Für ihr Buch "Abenteuer einer linkshändigen Friseurin" erhielt sie den "Forschungspreis Ethnografie 2024" der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.

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