Meinung: Krieg in Nahost

Hilferuf aus Israel

04:19 Minuten
Ein Kind trägt bei einer Demonstration eine Mütze mit der Aufschrift "Bring them home NOW" - gemeint sind die von der Hamas entführten Israelis.
Demonstration in Jerusalem für die Befreiung der Menschen, die als Geiseln der Hamas im Gazastreifen sind. © picture alliance / ZUMAPRESS.com / Nir Alon
Ein Einwurf von Ofer Waldman · 13.03.2024
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Für gemäßigte Israelis und Palästinenser sind das Hamas-Massaker vom 7. Oktober und der Krieg in Israel und Gaza ein ganz eigenes Drama. Für Ofer Waldman ist die letzte Hoffnung ein Einschreiten der internationalen Gemeinschaft.
Dies ist ein Hilferuf. 
Es ist ein Hilferuf für die hungernden Menschen von Gaza.
Es ist ein Hilferuf für die misshandelten israelischen Geiseln in den Tunneln der Hamas. 
Es ist ein Hilferuf für die Israelis, die immer noch fast jede Woche Opfer des Hamas-Terrors zu Grabe tragen müssen.
Es ist ein Hilferuf für die Palästinenser im Westjordanland, die unter Siedlergewalt leben. 
Es ist ein Hilferuf für alle Kinder in Libanon und Nordisrael, die drohen, zum Opfer der immer wahrscheinlicher werdenden Kriegsausweitung zu werden. 
Es ist ein Hilferuf, der das eigene Versagen offenbart. Wir, gemäßigte Israelis und Palästinenser, haben es aus eigener Kraft nicht geschafft, eine politische Führung an die Macht zu hieven, die für menschenwürdige Zustände für alle hier lebenden Menschen sorgt.

Es ist ein Hilferuf, der sich besonders bitter anfühlt. Denn es ist klar, dass er gerade von denen gefeiert wird, die nach dem 7. Oktober plötzlich erstmal ganz still wurden. Die Israel immer nur als Aggressor wahrnehmen und deshalb keine Empathie für die israelischen Opfer des Hamas-Terrors aufbringen können. Dass er von anderen verurteilt wird, deren Empathie wiederum nur für die israelischen Opfer gilt, sich offenbar nach eben jenem 7. Oktober aber aufgebraucht hat. Von Menschen, die zwischen toten Kindern unterscheiden wollen, mit Begriffen wie „Befreiungskampf“ auf der einen Seite oder „Kollateralschaden“ auf der anderen. Von denen, die ihre moralisierende Integrität anhand von gebügelten Pali-Tüchern wie Mode-Accessoires tragen. Oder von konservativen Kräften, und zwar nicht nur in der AfD, die Ausländerfeindlichkeit für eine Form der Israelsolidarität halten. 

Viele von uns geben sich fanatischen Fantasien hin

Es ist ein Hilferuf der friedlichen Kräfte in Israel und Palästina. Nach dem von der Hamas verübten Massaker am 7. Oktober und angesichts des Todes und des Hungers in Gaza, wird es immer schwieriger, sich einen friedlichen Horizont auszumalen. Die Angst und der Schrecken dieser Zeit werden von zynischen politischen Kräften missbraucht und von den sozialen Medien angeheizt. Viele von uns geben sich deshalb fanatischen Fantasien hin. Fantasien, die aus einer Mischung von göttlicher Verheißung und ethnischer Säuberung bestehen. Die also anhand messianischer Rhetorik eine Schreckensvision anstreben, in der die vermeintlich andere Seite erschlagen, besiegt, vertrieben wird. Es sind die gleichen Fantasien auf beiden Seiten, nur die Rollen sind jeweils vertauscht. 

Hier wird nicht die israelische Regierung mit der Hamas-Führung verglichen

Um es ganz klar zu sagen: Hier wird nicht die israelische Regierung mit der Hamas-Führung verglichen. Das einzige Ziel solcher morbiden Vergleichsspiele ist es ja ohnehin, sich für das eigene Versagen aus der Verantwortung zu ziehen. Oder erscheint es etwa sinnvoll, oder möglich, Massenhunger gegen die Verwendung sexueller Gewalt als Kriegswaffe gegeneinander aufzuwiegen? 
Es ist ein Hilferuf, denn offenbar sind auf beiden Seiten politische Kräfte am Werk, die ihre Endzeitfantasien nur im Schatten eines umfassenden Krieges verwirklichen können. Und uns läuft die Zeit davon. Wir können nicht länger darauf warten, dass die politischen Konstellationen auf beiden Seiten friedfertige Kräfte an die Macht bringen. Ein international sanktionierter Waffenstillstand unter Befreiung der Geiseln und Gewährung humanitärer Hilfe, gefolgt von einer verbindlichen Friedenskonferenz für die Region, ist die einzige mögliche Antwort auf die Schrecken der letzten Monate. Doch das schaffen wir nicht aus eigener Kraft. 
Dies ist ein Hilferuf. Wird er gehört?

Ofer Waldman, in Jerusalem geboren, ist freier Autor und Journalist. Er war Mitglied des arabisch-israelischen West-Eastern-Divan Orchesters. In Deutschland spielte der diplomierte Orchestermusiker unter anderem beim Rundfunk-Sinfonie-Orchester Berlin sowie den Nürnberger Philharmonikern. Er wurde an der Hebräischen Universität Jerusalem und der FU Berlin in Germanistik und Geschichtswissenschaft promoviert. Waldman beschäftigt sich in Vorträgen und Texten mit den deutsch-jüdischen, deutsch-israelischen und israelisch-arabischen Beziehungen.

Porträt von Ofer Waldman.
© imago / Holger John
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