Kommentar
"Hypernormalisierung": der Begriff kann auch auf uns heute angewendet werden, etwa wenn es um unseren Umgang mit dem menschengemachten Klimawandel geht. © picture alliance / galoppfoto / Sabine Brose
Leben in der kollektiven Verdrängung
04:50 Minuten

Klimakrise, Demokratiekrise, Krieg, Flucht, Gewalt – wir leben im Zeitalter der Krise. Trotzdem tun viele so, als sei alles normal. "Hypernormalisierung" beschreibt ein Phänomen aus der Spätphase der Sowjetunion, das auch auf uns heute zutrifft.
Während des letzten Jahrzehnts der Sowjetunion glaubte nur noch eine kleine Minderheit der Bevölkerung an die offiziellen politischen Verlautbarungen der Staatsführung. Dies zeigten Untersuchungen, die der russisch-amerikanische Sozialwissenschaftler Alexei Yurchak Mitte der 2000er-Jahre vorlegte.
Der übergroßen Mehrheit der Menschen in der Sowjetunion war klar, dass sie belogen wurden, dass die täglich verkündete Überlegenheit des sozialistischen Modells, seine glorreichen Erfolge und sein unausweichlicher Sieg über den Klassenfeind im Westen nichts als ideologische Fantasien waren.
Scharade der Normalität
Dennoch machten die Menschen weiter. Obwohl sie wussten, dass das System bereits gekippt war und nicht mehr funktionierte, und obwohl sie voneinander wussten, dass sie das wussten, agierten sie, als glaubten sie weiterhin an die Zukunft des Gewohnten.
Zu Millionen führten sie täglich die Scharade der Normalität auf – unter anderem deswegen, weil sie sich keine Vorstellung von einer Alternative machen konnten und deshalb vor dem Gedanken an radikale Veränderung zurückscheuten. Diesen kollektiven mentalen Zustand taufte Yurchak „Hypernormalisierung“.
1,5 Grad Ziel ist praktisch nicht mehr zu erreichen
In jüngster Zeit hat dieser Begriff an Prominenz gewonnen, weil er sich gut auf einige unserer gegenwärtigen Problemlagen übertragen lässt, etwa auf den menschengemachten Klimawandel.
Quasi jeder Monat ist inzwischen, weltweit betrachtet, der heißeste jemals gemessene. Alle wissen, dass das Ziel des Pariser Klimaabkommens, die Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen, praktisch nicht mehr zu erreichen ist und welche katastrophalen Folgen das haben wird.
Dennoch gibt es keine entschlossene Gegenwehr. Im Gegenteil: Sogar beschlossene Maßnahmen werden wieder infrage gestellt, weil es doch irgendwann einmal genug sein muss mit den Zumutungen. Dabei hat es noch gar keine Zumutungen gegeben.
Trotz Zweifel zahlen wir treu in die Rentenkassen ein
Regierungen und Unternehmen tun so, als ob unser gegenwärtiges, historisch beispielloses Konsum- und Wirtschaftsverhalten mit ein paar kleineren Anpassungen hier und da auf ewig fortbestehen könne. Wir wissen, dass dieses Narrativ falsch ist, und zahlen dennoch treu in Rentenkassen ein - für eine Zukunft, von der nicht klar ist, ob es sie geben wird.
Das System läuft auf Autopilot. Eine Alternative scheint unausdenkbar und wir widmen uns solange der Planung unseres Alltags – ist ja herausfordernd genug. Wir hypernormalisieren.
Sartre und die Mauvaise foi
Die Philosophin erinnert das alles an die Art von Selbstentfremdung des Subjekts, die Jean-Paul Sartre als „Unwahrhaftigkeit“, als Mauvaise foi bezeichnete. Nach Sartre besteht die Unwahrhaftigkeit darin, dass ein Mensch sich und anderen weismacht, bruchlos mit einer gesellschaftlichen Rolle oder einer überkommenen Lebensweise einverstanden, mit ihr geradezu identisch zu sein.
Dieses So-Tun-als-ob entlastet ihn davon, sich je die Frage zu stellen, was er selbst wirklich will oder tun sollte. Unwahrhaftigkeit beruht nicht auf einem Mangel an Wissen über sich selbst. Die unwahrhaftige Person weiß, dass sie anders handeln könnte oder sogar müsste. Allerdings lässt sie dieses Wissen durch eine selbst aufrechterhaltene Spaltung des Bewusstseins nicht handlungswirksam werden. Die Wahrheit ist bekannt, wird aber nicht in das eigene Handeln integriert, weil das zu anstrengend, zu kostspielig oder zu beängstigend wäre.
Hypernormalisierung: Weitermachen wie bisher
Hypernormalisierung ist genau dieser Zustand auf kollektiver Ebene – eine unwahrhaftige Weise der Existenz, gezeichnet von einer zunehmend zombiehaft wirkenden oberflächlichen Alltäglichkeit, die den Zweifel, die Angst und die Ratlosigkeit dahinter verbirgt: Wir wissen nicht, wie es weitergehen soll – also machen wir, paradoxerweise, erst einmal weiter.
So wie Mauvaise foi die Weigerung ist, das Leben frei und verantwortlich zu leben, ist Hypernormalisierung die Weigerung einer Gesellschaft, sich ihrer Freiheit zur Veränderung und ihrer Fähigkeit zur Transformation zu stellen. Wir können sie uns nicht mehr lange leisten.