Meinung

Wenn Vorschriften wichtiger als Menschen sind

04:40 Minuten
Zahlreiche Aktenmappen liegen gestapelt in einem Regal in einem Büro. Eine Person ist dabei, eine Mappe aus dem Regal zu nehmen.
In Deutschland herrsche schon viel zu lange Bürokratismus, so Susanne Gaschke. © picture alliance / dpa / Monika Skolimowska
Von Susanne Gaschke · 24.04.2024
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Bürokratieabbau ist ein allgegenwärtiges Ziel in der Politik. Tatsächlich aber nehmen bürokratische Zumutungen zu, kritisiert Autorin Susanne Gaschke. Wenn Regeln zu wichtig würden, sei das Bürokratismus und gefährde die Demokratie.
Die Stimmung im Land ist nicht gut. Ich frage mich seit Längerem, ob die allgemeine Verdrossenheit nicht von einem unheimlichen Gefühl herrührt - von dem Gefühl, dass Deutschland nicht mehr funktioniert. Dass es nur noch aus Staus, Streiks, unbeantworteten E-Mails, bürokratischer Kleinquälerei und behördlicher Entscheidungsverweigerung besteht. Oh, und natürlich aus zeitlich unbefristeten Telefonwarteschleifen und Digitalformularen, die sich nicht laden lassen.
Alle politisch Verantwortlichen, egal ob auf kommunaler, auf Landes- oder Bundesebene, führen beständig das Ziel des Bürokratieabbaus im Munde. Aber tatsächlich werden die bürokratischen Zumutungen mehr und nicht weniger. Bis 2010 wurde beim öffentlichen Dienst tatsächlich gespart, seither wachsen die Verwaltungen wieder. Das geht aber nicht mit mehr Entgegenkommen für den Bürger einher, sondern mit mehr Obrigkeitsgehabe. Das um sich greifende "Homeoffice" führt in die Unerreichbarkeit, eine allumfassende Absicherungsmentalität in die Entscheidungsverweigerung.

Zermürbte Gastgeber von Ukraine-Flüchtlingen

Hier sind ein paar willkürlich zusammengestellte Beispiele aus Gesprächen der vergangenen Wochen. Ich kenne ein grün-alternatives Paar, beide in kleinem Rahmen selbstständig, die gleich nach Ausbruch des Ukrainekriegs Flüchtlinge in ihrem Bauprojekt aufgenommen haben. In den ersten Wochen umsonst, aus reiner Mitmenschlichkeit. Später für einen Betrag, der lachhaft ist im Vergleich zu dem, was große Sozialträger bekommen.
Am Anfang waren die Behörden dankbar dafür, mehr als 50 verzweifelte Menschen in einer freundlichen, zugewandten Umgebung untergebracht zu wissen. Doch mit der Normalisierung des Krieges kehrte auch die Normalität der deutschen Sozialbürokratie zurück: Jetzt verschwinden E-Mails im Nirwana; klar getroffene Absprachen werden wieder und wieder in Zweifel gezogen; für die Gastgeber ist auf nichts mehr Verlass. Sie sind vollkommen zermürbt und würden am Liebsten hinschmeißen. Wenn es da nicht eben um die ukrainischen Familien ginge, die sie nicht einfach auf die Straße setzen können.

Bauverwaltung und der demografische Wandel

Zweites Beispiel: Da ist die Pilates-Unternehmerin, die es sich ja wirklich nicht ausgesucht hatte, in der Corona-Zeit ihre Studios monatelang zu schließen. Mit den – damals sehr freihändig ausgeteilten – Corona-Hilfen kam sie einigermaßen über die Runden, obwohl ihre Verluste trotzdem groß waren.
Jetzt aber fordern die Behörden Teile dieser Hilfen zurück. Die Begründung ist schwer verständlich, von der früheren Großzügigkeit ist nichts mehr zu spüren. Die Frau wird derartig mit nachträglichen Nachweis- und Dokumentationspflichten gequält, dass sie ans Aufgeben denkt.
Drittes Beispiel: Auch vor Landwirten macht der demografische Wandel nicht halt. Wo früher drei Generationen auf einem Hof lebten – Oma und Opa auf dem Altenteil, aktive Generation und Kinder im Bauernhaus –, da sind es heute oftmals vier Generationen. Die Menschen werden eben älter.
Aber die Bauverwaltung kommt da nicht mit: Zwei Altenteiler-Häuser, eins für Urgroßeltern und eins für Großeltern? Das hatten wir ja noch nie. Sachdienlicher Hinweis der Behörde: Die Urgroßeltern könnten ja ins Pflegeheim ziehen. Klar. Könnten sie. Nur wäre das dann eben genau nicht der Generationenvertrag in der Landwirtschaft, der besagt, dass alle einander helfen und füreinander da sind.

Bürokratieabbau als Herkulesaufgabe

Um es deutlich zu sagen: Den hier beschriebenen Menschen geht es nicht existenziell schlecht. Es ist eher so, dass sie etwas Gutes, oder wenigstens etwas Normales tun wollen, und an allen Ecken und Enden auf komplett überflüssige Schwierigkeiten stoßen.
Die Bundesregierung verbreitet, dass sie doch permanent Probleme löse und fleißig den Koalitionsvertrag abarbeite. Vielleicht sind es aber einfach nicht die Probleme, die den Alltag vieler Menschen prägen.
Von Bürokratieabbau zu sprechen, ist leicht. Ihn tatsächlich umzusetzen, ist aber eine Herkulesaufgabe. Wie und ob diese gemeistert wird, ist eine Frage der politischen Kultur und kann für die demokratische Stimmung im Lande von entscheidender Bedeutung sein.

Susanne Gaschke ist Autorin der "Neuen Zürcher Zeitung" im Berliner "NZZ"-Büro. Von 1997 bis 2012 war sie Reporterin und Leitartiklerin bei der Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit". Ende Dezember 2012 übernahm die Sozialdemokratin das Oberbürgermeisteramt in Kiel. Ende Oktober 2013 erklärte sie ihren Rücktritt. Von 2015 bis 2022 war sie Autorin der "Welt" und der "Welt am Sonntag" in Berlin. Sie ist Autorin zahlreicher Sachbücher. Zuletzt erschien von ihr eine Biografie des Grünen-Co-Vorsitzenden und jetzigen Bundeswirtschaftsministers Robert Habeck. Susanne Gaschke ist verheiratet und hat eine erwachsene Tochter.

Susanne Gaschke in der ARD-Talkshow 'maischberger' im Studio Berlin Adlershof. Berlin, 11.10.2023
© picture alliance / Geisler-Fotopress / Thomas Bartilla
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