Kolumbien

Nach 52 Jahren Bürgerkrieg endlich Frieden?

Zahlreiche Menschen sind zur Unterzeichnung des neuen Friedensabkommens zwischen der kolumbianischen Regierung und der FARC-Guerilla am 24.11.2016 in Bogota gekommen. Sie tragen Fahnen, manche weinen.
Zahlreiche Menschen waren zur Unterzeichnung des neuen Friedensabkommens zwischen der kolumbianischen Regierung und der FARC-Guerilla am 24.11.2016 in Bogota gekommen. © picture alliance / dpa / EFE / Leonardo Muñoz
Von Burkhard Birke · 07.12.2016
Der kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos erhält dieses Jahr den Friedensnobelpreis. Dabei war der erste Entwurf für ein Friedensabkommen mit den FARC-Rebellen in einer Volksabstimmung abgelehnt worden. Es wurde nachgebessert. Dennoch bleiben viele Fragen.
"Frieden das ist mehr als nur das Abkommen mit der FARC-Guerilla. Frieden müssen in diesem Land viele schließen: Die Fußballfans, die politischen Parteien, die Nachbarn, die nicht miteinander reden, die Betrunkenen, die sich streiten und umbringen. Der Mann, der seine Frau schlägt, oder die Mutter, die ihre Kinder verprügelt: All diese Gewalt muss aufhören."
Der Rapper Jeihhco bringt es auf den Punkt. Am eigenen Leib hat der Mittdreißiger erfahren, was Gewalt im Alltag bedeutet. Jeihhco stammt aus der berüchtigten Comuna 13 in Medellin, in der sich einst Guerilla, Paramilitärs und Sicherheitskräfte des Staates bekriegten. Heute gibt es dort nur noch kriminelle Banden.
Jeihhco und seine Band arbeiten mit Kindern, bringen ihnen gratis Hip Hop bei. Ihnen ist längst klar: Nur mit einem grundlegenden Mentalitätswandel können die 48 Millionen Kolumbianer echten Frieden im Land schaffen. Literaturnobelpreisträger Gabriel Garcia Márquez sprach einst von endemischer Gewalt. Diese Spirale der Gewalt gilt es ein für alle Mal zu stoppen.
Sie hat schon genug Opfer gefordert: Etwa sieben Millionen Menschen wurden vertrieben, mindestens 265.000 Menschen ermordet, 60.000 Personen gelten als verschwunden, 30.000 bis 40.000 wurden entführt. Zu den Entführten, die inzwischen wieder frei sind, gehört auch eine Familie aus einem Dorf im Norden Kolumbiens:
Mann: "Wie alle Kolumbianer glauben wir, dass es Frieden geben muss. In der Familie gibt es dabei die gleichen Meinungsverschiedenheiten wie im ganzen Land. Ich bin für Zugeständnisse, meine Frau ist dagegen. Sie will, dass diese Typen hart bestraft werden und ihre Möglichkeiten, in die Politik zu gehen, stark begrenzt werden. Ich glaube dagegen, dass man Zugeständnisse machen muss, wenn man diesen Holocaust beenden will. Unter allen Umständen muss verhindert werden, dass es wieder so ein Problem wie diesen Krieg gibt.
Die Frau dieses Mannes wurde von der FARC-Guerilla vor ein paar Jahren entführt, später er selbst, als er ihre Freilassung verhandeln wollte. Als die Tochter das Haus beliehen hatte und das Lösegeld überbrachte, kamen die Eltern endlich nach einem Jahr im Dschungel frei, doch dann brachte die Guerilla die Tochter in ihre Gewalt. Nach einigen Monaten und einer weiteren Zahlung kam auch sie frei. Eineinhalb Jahre später nahm eine andere Guerillagruppe den Sohn in Gewahrsam. Was wie das Drehbuch eines Horrorfilms klingt, war in Kolumbien Realität und wahrhaftig kein Einzelfall.

Aus Sicherheitsgründen wollte diese Familie anonym bleiben. Denn trotz oder gerade wegen des Waffenstillstands und des Abkommens mit den FARC dreht sich die Spirale der Gewalt in alle Richtungen weiter.Gegen Gewerkschafts- und Bauernführer sowie Studentenvertreter der linken Organisation "Marcha Patriotica" gibt es eine regelrechte Hexenjagd, sagt Edna Martinez:
Markt auf dem Land in Kolumbien 
Vor allem die Landbevölkerung in Kolumbien litt unter den FARC.© Deutschlandradio / Burkhard Birke
"Seit wir als Bewegung angefangen haben, das war 2010, sind 127 Mitglieder von unserer Bewegung erschossen worden. Allein in diesem Jahr 2016 sind 20 Leute, die ich kenne, sie sind Bauern, sie sind Führer sozialer Bewegungen, sie sind Studenten, sie sind Leute, die ganz offen politische Arbeit machen, und leider hat sie diese Arbeit das Leben gekostet.
In den 14 Tagen seit dem Interview mit Edna Martinez sind weitere Tote hinzugekommen. In den meisten Fällen steckten die Todesschwadronen der rechtsgerichteten Paramilitärs hinter den Morden. Alles wofür die Afrokolumbianerin und ihre Weggefährten streiten, sind mehr soziale Gerechtigkeit sowie die Anerkennung der Rechte von Unterdrückten und Minderheiten. Ziele, für die sich die FARC 52 Jahre lang mit Waffen eingesetzt haben und für die sie heute politisch kämpfen wollen. FARC-Chef Rodrigo Londono bei der feierlichen Unterzeichnung des letzten Friedensvertrages:
"Für das Wohl unseres Landes halten wir es für absolut geboten, dass Worte die einzigen Waffen sind, die wir Kolumbianer benutzen."

Das Misstrauen gegenüber den FARC-Rebellen sitzt tief

Soweit ist die zweite große Guerillagruppe im Land, das Nationale Befreiungsheer, ELN, noch nicht. Seine rund 2000 Kämpfer sollen schon - ähnlich wie kriminelle Banden - in die Gebiete vorgedrungen sein, aus denen sich die FARC zurückgezogen haben. Immer wieder kommt es zu bewaffneten Auseinandersetzungen und Überfällen. Und das obwohl täglich mit dem Auftakt formeller Friedensverhandlungen mit dem ELN gerechnet wird. Noch hat die ursprünglich stark von der Befreiungstheologie inspirierte Guerillagruppe aber nicht die letzten Geiseln in ihrer Gewalt freigelassen.
Für die Regierung ist das allerdings die Vorbedingung für Friedensgespräche, die in der ecuadorianischen Hauptstadt Quito stattfinden sollen. Das ELN indes besteht auf der parallelen Freilassung zweier seiner inhaftierten Mitglieder. Unlängst wurde ein hochrangiges Mitglied der ELN-Führung vom Militär erschossen. Auch zwei FARC-Guerilleros sind neulich getötet worden: Ob versehentlich oder gezielt ist unklar. Fakt ist: Der bis Ende Dezember mit den FARC vereinbarte Waffenstillstand droht zu bröckeln. Auch deshalb drückt die Regierung aufs Tempo. Präsident Juan Manuel Santos hält und hielt unbeirrt an seinem Ziel fest:
"Frieden im Land zu schaffen ist die größte und umwälzendste Herausforderung überhaupt für eine Generation. Ich kann mir keine edlere, erhabenere, keine höhere Aufgabe vorstellen als Leben zu schützen und Frieden zu schaffen. Als Präsident aller Kolumbianer unterzeichne ich dieses neue Abkommen und möchte Sie einladen, ihren Verstand und ihre Herzen zu öffnen und dem Frieden eine Chance zu geben",
sagte der Friedensnobelpreisträger bei der Unterzeichnung des revidierten Abkommens am 24. November im Teatro Colón in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá.
Kolumbianischer Präsident Juan Manuel Santos und FARC-Kommandeur Rodrigo Londoño reichen sich die Hand.
Shakehands zwischen Präsident Santos (l.) und Rebellenchef Londoño nach Unterzeichnung des Abkommens© dpa / Mauricio Duenas Castaneda
Vorausgegangen war ein mehrwöchiger, intensiver Verhandlungsmarathon. Denn das ursprüngliche, mit viel Pomp am 26. September in Cartagena unterzeichnete Abkommen war bei der Volksabstimmung nur eine Woche später denkbar knapp durchgefallen: Mit 50,2 Prozent triumphierten die Gegner des Abkommens, allen voran Ex Präsident Alvaro Uribe und seine Partei Centro Democrático. Deren Vorschläge nahm die Regierung in wochenlangen Verhandlungen auf und mit in neue Gespräche mit den FARC. Das Misstrauen in der kolumbianischen Bevölkerung gegenüber den FARC saß und sitzt freilich tief, auch wenn die FARC immer wieder ihren Friedenswillen beteuern. Ivan Marquez einer der Verhandlungsführer der Rebellenorganisation:
"Wir wollen keinen Krieg. Wir werden mit all unserer Kraft für eine politische Lösung des Konflikts kämpfen. Wir wollen nicht noch mehr Tote. Diesen Schwebezustand aufrechtzuerhalten, das wird weitere Tote, zusätzliche Opfer fordern. Das wollen wir unter allen Umständen vermeiden."
Deshalb war die Guerilla auch zu zahlreichen Zugeständnissen am ursprünglichen Abkommen bereit, ohne dessen Eckpunkte allerdings in Frage zu stellen. Die FARC dürfen ihren Kampf für mehr soziale Gerechtigkeit vor allem auf dem Land mit politischen Mittel fortsetzen und bekommen das Recht eine Partei zu gründen. 16 Abgeordnetenmandate werden eigens für die vernachlässigten ländlichen Regionen geschaffen. Für eine Übergangszeit von zwei Legislaturperioden sollen die FARC fünf Abgeordneten- und fünf Senatorensitze bekommen, unabhängig vom Wahlergebnis. Die Kämpfer sollen sich in 22 Sonderzonen und sechs Lagern sammeln und unter internationaler Aufsicht die Waffen abgeben. In Erwartung des Friedens halten sie sich viele schon in speziellen Lagern auf. Die Lebensbedingungen im Frieden seien besser meint dieser Guerillero.
"Für uns Guerilleras ist der Frieden gekommen, um zu bleiben."
Und sie genießen ihn auf ihre Weise mit eigenen Liedern.

Betroffene fühlen sich vom Staat allein gelassen

Die Reintegration dieser kriegsmüden Kämpfer in die Gesellschaft soll für kolumbianische Verhältnisse großzügig begleitet werden: Zum Beispiel mit Starthilfen von zwei Millionen Pesos, umgerechnet 600 Euro für jeden Guerillero, mit Übergangsgeldern und Existenzgründungszuschüssen von bis zu acht Millionen Pesos. Für viele arme Kolumbianer ist das ein Affront!
Die Regierung geht von knapp 5800 zuletzt aktiven Kämpfern aus. Darunter sind zahlreiche Minderjährige. Die FARC haben begonnen, sie ans Rote Kreuz zu übergeben. Hinzu kommen die sogenannten Milizen - Reserveeinheiten. Essentiell ist, dass die FARC nicht nur ihren bewaffneten Kampf einstellen, sondern sich auch aus dem Drogenhandel heraushalten müssen. Mehr noch: Sie sollen ihn bekämpfen und helfen, Kokapflanzungen durch legale Agrarprodukte zu ersetzen. Vorgesehen ist aber auch eine Entkriminalisierung kleiner Kokabauern und der Konsumenten. Gleichzeitig sieht das Abkommen vor, drei Millionen Hektar Land an arme, vertriebene Kleinbauern umzuverteilen. Entführungen und Erpressungen sind in Zukunft absolut tabu.
Für ihre Vergehen müssen sich die Guerilleros vor einer Sonderjustiz verantworten: Im Gegenzug für lückenlose Aufklärung, Wiedergutmachung und das Gelöbnis, nicht wieder straffällig zu werden, werden milde Strafen in Aussicht gestellt. Selbst für schlimmste Verbrechen sind Maximalstrafen von fünf bis acht Jahren Freiheitsentzug vorgesehen. Wer nicht kooperiert, soll von der regulären Justiz mit weit höheren Strafen abgeurteilt werden. Diese Übergangsjustiz gilt als beispielhaft in der internationalen Konfliktlösung. Der Kolumbienbeauftragte der Bundesregierung, der Grünen-Abgeordnete Tom Koenigs:
"Die 'Transitional Justice' ist ein fabelhaftes, neues und auch international beachtetes Projekt, das zwei Zentren hat: Das eine: Die Opfer stehen im Vordergrund und auch deren Würde – und als zweites: Mit der Wahrheit fängt es an. Das sind beides Elemente, die im normalen Strafprozess nicht in der Weise drin sind, da sind die Opfer als Nebenkläger und der Angeklagte kann schweigen. Diese beiden Elemente sind aber für die Versöhnung unumgänglich."
Was aus internationaler Perspektive vorbildlich gelungen schien, war und ist Stein des Anstoßes für viele Kolumbianer, die Opfer des Konfliktes wurden. Eine Wahrheitskommission soll ihnen Aufschluss über den Verbleib ihrer Angehörigen geben. Zigtausende Menschen sind verschwunden – woran auch und vor allem die rechtsgerichteten Todesschwadronen der Paramilitärs beteiligt waren. Sie wurden 2005 mit einem Gesetz großzügig amnestiert. Viele treiben aber nach wie vor ihr Unwesen, oft als Banden.
Friedenscamp in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá
Friedenscamp in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá: Es bestand, bis das neue Friedensabkommen ratifiziert war.© Deutschlandradio / Burkhard Birke
Die Opfer sollen Entschädigungen erhalten. Solche Programme laufen schon, nicht aber zur Zufriedenheit der Betroffenen, die sich vom Staat oft allein gelassen fühlen. Immerhin hat die Regierung im neuen Abkommen dem kolumbianischen Verfassungsgericht ein Revisionsrecht für die Sonderjustiz eingeräumt und auf internationale Richter verzichtet. Zudem sollen nur die Teile des Abkommens in die Verfassung übergehen, wo es um Menschenrechte geht.
"Mit der Wählbarkeit der FARC-Guerilleros, der Übergangsjustiz und der Frage der Verfassungsrelevanz haben wir große Probleme",
sagte Oscar Zuluaga, einer der Chefunterhändler des oppositionellen Centro Democrático, Gegner des Friedensvertrages in dieser Form. Nach Änderungen in 56 entscheidenden Punkten waren jedoch die geforderten Nachverhandlungen der Nachverhandlungen nicht vorstellbar.

Die FARC müssen Opfer entschädigen

Vor allem das Verlangen, den FARC-Führern wegen ihrer Verbrechen den Weg in die Politik zu versperren, war unrealistisch. Präsident Juan Manuel Santos:
"Es werden ihnen keine Parlamentssitze zugeteilt. Im Gegenteil: Sie müssen sich an Wahlen beteiligen. Sie werden auch keine Regierungsämter innehaben, wie es in vielen Ländern geschehen ist, aber sie werden gewählt werden können."
Unbesiegt sind die FARC in diese Verhandlungen gegangen. Ihnen den Weg in die Politik zu versperren widerspräche der Logik solcher Prozesse. Abgesehen einmal von diesem Punkt hat es eine Fülle an Zugeständnissen und Klarstellungen in dem neuen Abkommen gegeben. Zum Beispiel: Die FARC müssen ihr Vermögen offenlegen und damit Opfer entschädigen. Privateigentum wird ausdrücklich geschützt. Das Sondergericht muss die Form des Freiheitsentzugs klar eingrenzen. Zur finanziellen Entlastung wird die Umsetzung des Abkommens von 10 auf 15 Jahre gestreckt, die FARC dürfen nicht für die 16 neuen Parlamentssitze in vernachlässigten ländlichen Gebieten kandidieren; die Finanzierung der noch zu gründenden Partei wird auf ein Normalmaß zurückgestutzt, um nur einige Zugeständnisse zu nennen. Teile der Opposition konnten damit zufrieden gestellt werden. Das Centro Democrático spielte und spielt jedoch auf Zeit, verweigerte den nationalen Friedenspakt und kritisierte die Ratifikation des Abkommens durch den Kongress.
"Der Kongress und die Regierung sind nicht berechtigt, das zu verabschieden, was das Volk bereits abgelehnt hat",
meinte Senator Jaime Amín vom Centro Democrático und verlangte ein neues Referendum. Präsident Santos freilich wollte jedoch kein Risiko mehr eingehen und beauftragte den Kongress mit der Ratifizierung des endgültigen Abkommens:
"In unserer Demokratie übt das Volk seine Souveränität direkt oder durch die von ihm gewählten Vertreter aus. Diese Entscheidung habe ich auch wegen der Dringlichkeit des Friedens getroffen. Wegen der Unsicherheit ist der Waffenstillstand brüchig geworden. Wir konnten die Umsetzung nicht eine Minute länger hinauszögern."
Nun reist der Friedensnobelpreisträger nicht mit leeren Händen nach Oslo: Vergangene Woche haben Senat und Repräsentantenhaus dem Abkommen mit großer Mehrheit zugestimmt.
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