Koloss auf tönernen Füßen

Vorgestellt von Michael Stürmer |
Peter Scholl-Latour hat einen Blick für Menschen. Er ist ein Erzähler von Geschichten, seine Analyse verbirgt sich nicht selten in der Anekdote. Sein neues Buch über Amerika ist geprägt von beidem, der Sorge um Europas Schwäche und der Kritik an Amerikas Stärke - eine Stärke allerdings, die längst offenkundig überdehnt ist.
Daher der Titel des Buches, dem biblischen Buch Daniel entlehnt, wo der Prophet dem König von Babylon einen Traum ausdeutet: Der gewaltige Turm, der auf tönernen Füßen steht, und von einem Stein zerschmettert wird. Ein düsteres Bild, das indessen seit dem Irak-Krieg nicht mehr so weit hergeholt aussieht wie zuvor. Jetzt hat Amerika die Grenzen der Macht erfahren, die Schatten der Niederlage verlängern sich, und der Vorsitzende der amerikanischen Stabschefs, General Myers, warnt den Präsidenten öffentlich, das amerikanische Militär könne keine weiteren Lasten schultern.

Scholl-Latour hat in diesem Buch drei Themen: Die Grundlagen amerikanischer Macht, ihr schmerzhafter Einsatz im Mittleren Osten, und ihre Grenzen in Fernost, wo die Volksrepublik China längst zum Machtrivalen heranwächst. In Wahrheit gibt es nicht die Supermacht aller Supermächte, sondern es gibt längst ein multipolares System mit schwierigen, allesamt instabilen Gleichungen der Macht: Militärischer, wirtschaftlicher, moralischer Macht, hard power und soft power. Der Moment des Triumphs war kurz und trügerisch.

"Das 20. Jahrhundert war das amerikanische Jahrhundert. Die Niederlage der Mittelmächte wurde der deutschen Heeresführung endgültig klar, als die Divisionen des Generals Pershing in Frankreich an die Front rückten. Der 2. Weltkrieg steigerte sich zur Apotheose amerikanischer Machtentfaltung. Als Franklin Roosevelt zwei Imperien auf einmal zerschlug, das Großdeutschland Hitlers und das japanische Reich, das bis an die Tore Australiens und Indiens vorgedrungen war. Die Krone der Weltherrschaft wurde der einzig verbliebenen Supermacht wie auf einem silbernen Tablett offeriert, als die Sowjetunion, vor der die Europäer und nicht nur sie, zitterten und bangten, sich sang und klanglos auflöste. "

Scholl-Latour verlässt sich nicht auf die traditionelle Hypothese der atlantischen Wertegemeinschaft. Er sieht die tiefe Religiosität, die Amerikas gesamtes öffentliches Leben durchzieht, seitdem die ersten Fundamentalisten aus Europa in der Neuen Welt an Land gingen, lund stellt dagegen die religiöse Indifferenz der heutigen Europäer. Er lässt die Frage offen, ob dies nicht im letzten Grund das ist, was beide Seiten trennt: Hier das postreligiöse "Anything goes", dort der Bezug, am stärksten beim gegenwärtigen Präsidenten, auf Gott und die göttliche Führung so sehr, dass für fromme Demut kein Raum bleib und den Europäern schon wieder angst und bange wird.

Im Fernen Osten besuchte Scholl-Latour die Stätten des Vietnam-Kriegs und des Koreakriegs, wie vor vier und fünf Jahrzehnten. Er besuchte selbst das unheimliche und sonst kaum zugängliche Nordkorea, und kommt zurück mit der Erkenntnis, dass das Land des Kirn Yong Il, den die dortigen Massen als den "lieben Führer" täglich feiern müssen, sich im Grunde unserer Kenntnis und Analyse entzieht. Das ist angesichts der Tatsache, dass dieser Staat wahrscheinlich über ein halbes Dutzend Atomwaffen verfügt, ohne jede Kontrolle von außen, nicht beruhigend. Selbst in Peking, so lernt der neugierige Frager, sind die Führer am Ende ihres Chinesisch.

Ähnliche Erfahrungen auch im Zweistromland. Nicht einmal am hellen Tag gehört der Irak den Amerikanern und ihren Verbündeten. Scholl-Latour erzählt von einer Fahrt mit dem Auto von Bagdad nach Najaf, wohlweislich unter dem Schutz der Ayatollahs und schiitischer Bewaffneter. Sein Bericht bildet die Atmosphäre ab:

"Mit Einbruch der Dämmerung hat der Verkehr nachgelassen. Zwischen Kerbala und Najaf - eine Entfernung von 80 Kilometern - ist jede amerikanische Präsenz verschwunden. Hingegen mehren sich die irakischen Kontrollposten. Die blau uniformierten Polizisten zögern nicht, selbst Sargdeckel aufzubrechen um zu überprüfen, ob unter den Leichen, die in der Nähe des Imam Ali ihre letzte Ruhe finden sollen, Waffen versteckt sind. . . Auf halber Strecke wird unser Konvoi aufgehalten. Trotz der Uniform weiß man nie, mit wem man es an diesen Checkpoints zu tun hat ... Die Ordnungshüter interessieren sich auffallend für die ausländischen Pässe. "

Die Vermutung, die sich anschließt: Die stecken mit Entführern unter einer Decke, die an der nächsten Ecke die Reisenden entführen und dann Lösegeld verlangen. Scholl-Latour und seine Begleiter weichen auf kleine Straßen aus, wo man sie nicht erwartet. Der Irak, so zeigt sich, ist ein Land, das niemand beherrscht: Nicht die Terroristen, nicht die irakische Regierung - und auch nicht die Amerikaner.

Geht der Weltmacht Amerika die Sonne unter? Durch alle Kritik klingt diese Sorge. Scholl-Latour, Ritter der franzosischen Ehrenlegion, ist von jeher ein großer Bewunderer des Generals de Gaulle, und unüberhörbar ein deutsch-französischer Gaullist. Aber anders als den linken Verächtern Amerikas in Europa geht ihm dabei, wie de Gaulle, nicht der Sinn für Proportionen und Realitäten verloren.

"Noch ist die Macht Amerikas - trotz einer Serie regionaler Rückschläge - in keiner Weise ernsthaft erschüttert. Aber die Debatte über Niedergang und Sturz dieses einzigartigen Imperiums ist in den politischen Analysen unserer Tage allgegenwärtig. Für die einen handelt es sich um hämisches Wunschdenken, für die anderen um eine beklemmende Befürchtung. "

Zu diesen zählt auch und gerade wegen seiner Einsichten in die Grenzen der Macht Scholl-Latour. Denn das Einzige, was noch schlimmer wäre für die Europäer als Amerikas Stärke, ist Amerikas Schwäche. Die Europäer sollten daher die Warnung dieses Buches ernst nehmen: Amerika ist schwächer als es scheint, und ohne Amerika hat Europa kein Dach. Deshalb gilt: Die Europäer werden Atlantiker sein, oder sie werden nicht sein - ob sie es wollen oder nicht. Die meisten wollen es nicht, und haben dafür Gründe, allerdings oft die falschen. Die Arroganz der Macht wird ins Feld geführt, die Militanz der Außenpolitik, die Unkenntnis der Außenwelt. Selbst wenn das alles richtig ist, so bleibt doch, dass die Europäer mehr Weltordnung verbrauchen als sie selber produzieren, dass ihnen von Kosovo und Bosnien bis Iran und Afghanistan ohne Anleihen bei der Macht von jenseits des Wassers sehr bald die Puste ausgehen würde, und dass sie für Fernost, den Aufstieg Chinas, die Taiwan-Krise, die Nuklearwaffen Nordkoreas nicht einmal die Andeutung einer Strategie haben. Es ist eine Sache, aus Paris und Berlin die "Hyperpuissance" zu beklagen, die Über-Übermacht Amerikas und das moralisch höhere Gelände zu besetzen. Es ist eine ganz andere, Europa Gewicht und Respekt zu verschaffen und Gut und Blut für Weltordnung einzusetzen. Zieht sich Amerika hinter seine Ozeane zurück, kommt für Europa die Stunde der Wahrheit.


Peter Scholl-Latour: Koloss auf tönernen Füßen
Amerikas Spagat zwischen Nordkorea und Irak
Propyläen-Verlag, Berlin 2005