Kollektives Sündenbekenntnis
Jom Kippur ist der Versöhnungstag und höchste jüdische Feiertag. Er ist der Abschluss von zehn Tagen der Reue und Umkehr, die an Rosch Ha-Schana angefangen haben. Zu ihren Verfehlungen bekennen sich Juden nicht einzeln, sondern als Gemeinschaft.
Kol Nidre ist das wohl das berühmteste Gebet an Jom Kippur, dem Versöhnungstag und höchsten jüdischen Feiertag. Jom Kippur beginnt am Abend des 27. Septembers. Ab Sonnenuntergang bis zum Einbruch der Nacht am kommenden Abend, insgesamt gut 25 Stunden, sind Essen und Trinken streng verboten. In allen Synagogen der Welt, in Berlin um 18 Uhr 35, wenn in der Hauptstadt die Sonne untergeht, beginnen die Kantoren den Gottesdienst mit dem Kol Nidre – zu deutsch "Alle Schwüre". Den aramäischen Text verstehen auch die meisten Juden nur in einer sinngemäßen Übersetzung.
"Mögen wir von allen Gelübden und Verpflichtungen freigesprochen werden, die wir Gott gegenüber vergeblich machen werden von diesem Versöhnungstag an bis zum nächsten Versöhnungstag, und von den Unternehmungen, die wir besser nicht angefangen hätten. Alle Versprechen, die wir unseren Mitmenschen gemacht haben, bleiben erhalten."
Mit dem Kol Nidre hat sich Annette Mirjam Böckler eingehend befasst. Sie ist Dozentin für Bibel und jüdische Liturgie sowie Bibliothekarin am Leo-Baeck-College in London.
"Das Kol Nidre ist so berühmt, weil es immer schon problematisch war. Was ist so problematisch an Kol Nidre? Dass man sagt, alle Gelübde, die wir im Laufe des Jahres tun, die mögen aufgehoben werden. Und im Mittelalter gab es antisemitische Vorurteile, man könnte sich auf Juden nicht verlassen oder auf das Wort von Juden sei kein Verlass, und da war man sehr skeptisch mit dem Kol Nidre."
Dennoch ist ein Jom-Kippur-Gottesdienst ohne Kol Nidre kaum denkbar. Vielleicht sogar weniger wegen des Textes, sondern wegen der Melodie und der feierlichen Atmosphäre, die sie auslöst. Der Komponist Max Bruch hat das Kol-Nidre-Gebet vertont. Eine Aufnahme mit der Cellistin Jacqueline du Pré.
Musik
Anders als an den meisten Tagen im Jahr sind die Synagogen an Jom Kippur oft voll bis auf den letzten Platz. Kantorin Mimi Sheffer, Leiterin des Jewish Instituts für Cantorical Arts in Berlin:
"Die Atmosphäre ist sehr gemeindeorientiert. Es ist klar, dass die Gemeinde zusammen betet, es ist klar auch, dass es große Erwartungen gibt. Die Intensität natürlich, dadurch, dass es fünf verschiedene Gebete gibt, am Abend ist der Gottesdienst ziemlich lang, und am Tag gibt es überhaupt keine Pause, es geht ganz durch... es gibt eine Entwicklung, die während des Tages passiert und die man durchmacht."
Musik
"Avinu Malkenu", hier in einer Interpretation von Barbra Streisand, ist neben Kol Nidre eines der wichtigsten Gebete an Jom Kippur. Nicht der Einzelne, sondern ein Kollektiv bestürmt seinen Gott und bittet um Vergebung.
"Unser Vater, unser König, wir haben gesündigt vor dir.
Unser Vater, unser König, es gibt für uns keinen König außer dir.
Unser Vater, unser König, tue mit uns um deines Namens willen.
Unser Vater, unser König, mache nichtig über uns verhängte schwere Entscheide."
Ein weiteres, zentrales Gebet ist das Sündenbekenntnis Aschamnu. Auf Hebräisch zählt es in alphabetischer Auflistung alle nur erdenklichen Sünden auf: Aschamnu, Bagadnu, Gasalnu, Dibarnu Dofi. Die Gemeinde rezitiert dieses Bekenntnis, die Betenden schlagen sich dabei an die Brust. Eine moderne Übersetzung gibt das Aschamnu so wieder:
"Arrogant waren wir, Boshaft, Charakterlos, Diebstahl haben wir begangen, Eingeschmeichelt uns…"
Das Sündenbekenntnis endet mit Z. Z wie ...
"Zerstörerisch war unser Verhalten."
Walter Rothschild, Landesrabbiner der liberalen jüdischen Gemeinden in Schleswig-Holstein, über kollektive Sündenbekenntnisse an Jom Kippur:
"Unsere Liturgie besteht nicht ganz, aber fast ausschließlich aus der Wir-Form. Man betet als Teil einer Gemeinschaft, auch wenn jeder individuell betet. Bei dem Sündenbekenntnis ist es auch sehr wichtig, keiner muss allein aufstehen und sagen, ich habe es getan, sondern wir beten gemeinsam, sozusagen: Unter uns sind Menschen, die das vielleicht getan haben. Dann ist keiner geoutet, man kann sogar ab zu denken, ein bisschen selbstzufrieden: na ja, ich habe das persönlich nicht getan, aber nichtsdestotrotz, es passiert. Wichtig ist, dass man als Gemeinschaft vor Gott steht. Eine Gemeinschaft von individuellen Seelen."
Annette Mirjam Böckler: "Genauso, wie wir uns in die Tradition stellen, dass wir erwählt sind, die Tora bekommen haben und eben eine besondere Aufgabe haben in der Welt, genauso stehen wir auch in der Tradition, dass unser Volk schon in der Vergangenheit gesündigt hat und wir auch ein Teil – das ist eben auch ein Teil unseres Erbes, beides, die Erwählung und die Sünde der Vorfahren."
Eines betonen aber beide, Rabbiner Rothschild und die Liturgie-Expertin Annette Mirjam Böckler: Im Gegensatz zum Christentum gibt es im Judentum keine Erbsünde.
Rothschild: "Juden sagen Nein, die Seele, o Gott, die Du mir geschenkt hast, ist rein. Dann braucht man keinen Reinigungsdienst. Man hat aber nichtsdestotrotz die Pflicht, diese Seele so rein wie möglich zurückzugeben, wenn die Zeit kommt."
Annette Mirjam Böckler: "Im Mittelalter war generell Sünde ein riesiges Thema. Das wurden im Judentum auch die Sündenbekenntnisse ganz lang. Ursprünglich ist das Zentrale an Jom Kippur ein Neuanfang, Vergebung, dazu gehört natürlich auch das Bekenntnis, aber der zentrale Satz ist eigentlich, ich habe vergeben, wie ich dir versprochen habe, oder auch: Gott ist barmherzig, geduldig, langmütig, was mehrmals gesunden wird in einer ganz einprägsamen Melodie."
Zwischen dem 9. und 16. Jahrhundert, sagt Annette Mirjam Böckler, wurden die Gebetstexte so ausführlich, wie sie heute in den Gebetbüchern stehen.
"Das Avinu Malkenu war ursprünglich ganz kurz. Es bestand nur aus dem letzten Satz, wir haben keine eigenen Werke, wir sind abhängig von dir."
Musik: Avinu Malkenu, historische Aufnahme
"Avinu Malkenu" in einer historischen Aufnahme mit Kantor Moshe Koussevitsky. Ein anderes wichtiges Gebet an den Hohen Feiertagen ist das Unetane Tokef, zu Deutsch: Wir wollen des Tages Heiligkeit verkünden.
Musik: Gebet Unetane Tokef, Naftali Hershtik
"Am Neujahrsfest denken wir darüber nach, wie das Urteil gefällt wird. Am Versöhnungstag denken wir darüber nach, wie das Urteil besiegelt wird. Für die, die durch Feuer oder durch Wasser sterben werden, durch Hunger oder durch Durst, durch Katastrophen, Seuchen oder Hinrichtung."
Mimi Sheffer: "Es ist wie ein Drama, es ist wie eine Oper. Es gibt einfach ein sehr großes Geschehen, was beschrieben wird, und das ist natürlich ein Lieblingsstück von jedem Kantor."
Nicht nur ein Highlight für jeden Kantor. Auch der kanadische Sänger und Poet Leonard Cohen hat Unetane Tokef in seinem Song "Who by Fire" vertont.
"And who by fire, who by water.
Who in the sunshine, who in the night time.
Who by high ordeal, who by common trial,
Who in your merry merry month of may,
Who by very slow decay,
And who shall I say is calling?”"
Rothschild: ""Unetane Tokef ist ein merkwürdiges Gedicht. Nach einer Tradition stammt es von Rabbiner Amnon aus Mainz, im Rheinland, er wurde gefoltert und getötet von dem damaligen Fürsten und Bischof, und in einem Traum ist er erschienen und hat dieses Gedicht dann einem seiner Schüler diktiert. Es ist ein schöner, grausamer Mythos. Es beschreibt ein Konzept, wo alle Geschöpfe vor Gott stehen, sogar die Engel. Alle stehen vor Gott und es wird für jeden entschieden, ob sie leben werden oder nicht im kommenden Jahr. Und wenn sie sterben werden, wie: wer durchs Wasser, wer durch Hunger, wer durch Gewalt, wer durch wilde Tiere und so fort."
"And who by brave assent
who by accident,
who in solitude,
who in this mirror,
who by his lady's command,
who by his own hand,
who in mortal chains,
who in power,
and who shall I say is calling?”"
Der Jom Kippur-Gottesdienst endet dieses Jahr am Montagabend mit dem Klang des Schofars, einem Instruments aus dem Horn eines Widders. Genau um 19.42 Uhr darf das Fasten gebrochen werden.
Mimi Sheffer: ""Wenn man am Abend zum Ende kommt, wo Schofar geblasen wird, dann hat man sehr viel hinter sich, und hat man das Gefühl, vielleicht doch vorbereitet zu sein für das nächste Jahr."
"Mögen wir von allen Gelübden und Verpflichtungen freigesprochen werden, die wir Gott gegenüber vergeblich machen werden von diesem Versöhnungstag an bis zum nächsten Versöhnungstag, und von den Unternehmungen, die wir besser nicht angefangen hätten. Alle Versprechen, die wir unseren Mitmenschen gemacht haben, bleiben erhalten."
Mit dem Kol Nidre hat sich Annette Mirjam Böckler eingehend befasst. Sie ist Dozentin für Bibel und jüdische Liturgie sowie Bibliothekarin am Leo-Baeck-College in London.
"Das Kol Nidre ist so berühmt, weil es immer schon problematisch war. Was ist so problematisch an Kol Nidre? Dass man sagt, alle Gelübde, die wir im Laufe des Jahres tun, die mögen aufgehoben werden. Und im Mittelalter gab es antisemitische Vorurteile, man könnte sich auf Juden nicht verlassen oder auf das Wort von Juden sei kein Verlass, und da war man sehr skeptisch mit dem Kol Nidre."
Dennoch ist ein Jom-Kippur-Gottesdienst ohne Kol Nidre kaum denkbar. Vielleicht sogar weniger wegen des Textes, sondern wegen der Melodie und der feierlichen Atmosphäre, die sie auslöst. Der Komponist Max Bruch hat das Kol-Nidre-Gebet vertont. Eine Aufnahme mit der Cellistin Jacqueline du Pré.
Musik
Anders als an den meisten Tagen im Jahr sind die Synagogen an Jom Kippur oft voll bis auf den letzten Platz. Kantorin Mimi Sheffer, Leiterin des Jewish Instituts für Cantorical Arts in Berlin:
"Die Atmosphäre ist sehr gemeindeorientiert. Es ist klar, dass die Gemeinde zusammen betet, es ist klar auch, dass es große Erwartungen gibt. Die Intensität natürlich, dadurch, dass es fünf verschiedene Gebete gibt, am Abend ist der Gottesdienst ziemlich lang, und am Tag gibt es überhaupt keine Pause, es geht ganz durch... es gibt eine Entwicklung, die während des Tages passiert und die man durchmacht."
Musik
"Avinu Malkenu", hier in einer Interpretation von Barbra Streisand, ist neben Kol Nidre eines der wichtigsten Gebete an Jom Kippur. Nicht der Einzelne, sondern ein Kollektiv bestürmt seinen Gott und bittet um Vergebung.
"Unser Vater, unser König, wir haben gesündigt vor dir.
Unser Vater, unser König, es gibt für uns keinen König außer dir.
Unser Vater, unser König, tue mit uns um deines Namens willen.
Unser Vater, unser König, mache nichtig über uns verhängte schwere Entscheide."
Ein weiteres, zentrales Gebet ist das Sündenbekenntnis Aschamnu. Auf Hebräisch zählt es in alphabetischer Auflistung alle nur erdenklichen Sünden auf: Aschamnu, Bagadnu, Gasalnu, Dibarnu Dofi. Die Gemeinde rezitiert dieses Bekenntnis, die Betenden schlagen sich dabei an die Brust. Eine moderne Übersetzung gibt das Aschamnu so wieder:
"Arrogant waren wir, Boshaft, Charakterlos, Diebstahl haben wir begangen, Eingeschmeichelt uns…"
Das Sündenbekenntnis endet mit Z. Z wie ...
"Zerstörerisch war unser Verhalten."
Walter Rothschild, Landesrabbiner der liberalen jüdischen Gemeinden in Schleswig-Holstein, über kollektive Sündenbekenntnisse an Jom Kippur:
"Unsere Liturgie besteht nicht ganz, aber fast ausschließlich aus der Wir-Form. Man betet als Teil einer Gemeinschaft, auch wenn jeder individuell betet. Bei dem Sündenbekenntnis ist es auch sehr wichtig, keiner muss allein aufstehen und sagen, ich habe es getan, sondern wir beten gemeinsam, sozusagen: Unter uns sind Menschen, die das vielleicht getan haben. Dann ist keiner geoutet, man kann sogar ab zu denken, ein bisschen selbstzufrieden: na ja, ich habe das persönlich nicht getan, aber nichtsdestotrotz, es passiert. Wichtig ist, dass man als Gemeinschaft vor Gott steht. Eine Gemeinschaft von individuellen Seelen."
Annette Mirjam Böckler: "Genauso, wie wir uns in die Tradition stellen, dass wir erwählt sind, die Tora bekommen haben und eben eine besondere Aufgabe haben in der Welt, genauso stehen wir auch in der Tradition, dass unser Volk schon in der Vergangenheit gesündigt hat und wir auch ein Teil – das ist eben auch ein Teil unseres Erbes, beides, die Erwählung und die Sünde der Vorfahren."
Eines betonen aber beide, Rabbiner Rothschild und die Liturgie-Expertin Annette Mirjam Böckler: Im Gegensatz zum Christentum gibt es im Judentum keine Erbsünde.
Rothschild: "Juden sagen Nein, die Seele, o Gott, die Du mir geschenkt hast, ist rein. Dann braucht man keinen Reinigungsdienst. Man hat aber nichtsdestotrotz die Pflicht, diese Seele so rein wie möglich zurückzugeben, wenn die Zeit kommt."
Annette Mirjam Böckler: "Im Mittelalter war generell Sünde ein riesiges Thema. Das wurden im Judentum auch die Sündenbekenntnisse ganz lang. Ursprünglich ist das Zentrale an Jom Kippur ein Neuanfang, Vergebung, dazu gehört natürlich auch das Bekenntnis, aber der zentrale Satz ist eigentlich, ich habe vergeben, wie ich dir versprochen habe, oder auch: Gott ist barmherzig, geduldig, langmütig, was mehrmals gesunden wird in einer ganz einprägsamen Melodie."
Zwischen dem 9. und 16. Jahrhundert, sagt Annette Mirjam Böckler, wurden die Gebetstexte so ausführlich, wie sie heute in den Gebetbüchern stehen.
"Das Avinu Malkenu war ursprünglich ganz kurz. Es bestand nur aus dem letzten Satz, wir haben keine eigenen Werke, wir sind abhängig von dir."
Musik: Avinu Malkenu, historische Aufnahme
"Avinu Malkenu" in einer historischen Aufnahme mit Kantor Moshe Koussevitsky. Ein anderes wichtiges Gebet an den Hohen Feiertagen ist das Unetane Tokef, zu Deutsch: Wir wollen des Tages Heiligkeit verkünden.
Musik: Gebet Unetane Tokef, Naftali Hershtik
"Am Neujahrsfest denken wir darüber nach, wie das Urteil gefällt wird. Am Versöhnungstag denken wir darüber nach, wie das Urteil besiegelt wird. Für die, die durch Feuer oder durch Wasser sterben werden, durch Hunger oder durch Durst, durch Katastrophen, Seuchen oder Hinrichtung."
Mimi Sheffer: "Es ist wie ein Drama, es ist wie eine Oper. Es gibt einfach ein sehr großes Geschehen, was beschrieben wird, und das ist natürlich ein Lieblingsstück von jedem Kantor."
Nicht nur ein Highlight für jeden Kantor. Auch der kanadische Sänger und Poet Leonard Cohen hat Unetane Tokef in seinem Song "Who by Fire" vertont.
"And who by fire, who by water.
Who in the sunshine, who in the night time.
Who by high ordeal, who by common trial,
Who in your merry merry month of may,
Who by very slow decay,
And who shall I say is calling?”"
Rothschild: ""Unetane Tokef ist ein merkwürdiges Gedicht. Nach einer Tradition stammt es von Rabbiner Amnon aus Mainz, im Rheinland, er wurde gefoltert und getötet von dem damaligen Fürsten und Bischof, und in einem Traum ist er erschienen und hat dieses Gedicht dann einem seiner Schüler diktiert. Es ist ein schöner, grausamer Mythos. Es beschreibt ein Konzept, wo alle Geschöpfe vor Gott stehen, sogar die Engel. Alle stehen vor Gott und es wird für jeden entschieden, ob sie leben werden oder nicht im kommenden Jahr. Und wenn sie sterben werden, wie: wer durchs Wasser, wer durch Hunger, wer durch Gewalt, wer durch wilde Tiere und so fort."
"And who by brave assent
who by accident,
who in solitude,
who in this mirror,
who by his lady's command,
who by his own hand,
who in mortal chains,
who in power,
and who shall I say is calling?”"
Der Jom Kippur-Gottesdienst endet dieses Jahr am Montagabend mit dem Klang des Schofars, einem Instruments aus dem Horn eines Widders. Genau um 19.42 Uhr darf das Fasten gebrochen werden.
Mimi Sheffer: ""Wenn man am Abend zum Ende kommt, wo Schofar geblasen wird, dann hat man sehr viel hinter sich, und hat man das Gefühl, vielleicht doch vorbereitet zu sein für das nächste Jahr."