Kollektive Trauerarbeit
In dem 1915 verfassten Essay "Trauer und Melancholie" beschreibt Sigmund Freud die Trauerarbeit als einen Prozess, in dessen Verlauf das trauernde Subjekt auf den Objektverlust zunächst mit einem Rückzug aus der Außenwelt reagiert.
Seine ganze Energie wird durch den Schmerz und Erinnerungen absorbiert, "bis das Ich, gleichsam vor die Frage gestellt, ob es das Schicksal des Toten teilen will, sich durch die Summe der narzisstischen Befriedigungen, am Leben zu sein, bestimmen lässt, seine Bindung an das vernichtete Objekt zu lösen." Wer je in der Lage gekommen war, sich mit dem Tod eines nahestehenden Menschen auseinandersetzen zu müssen, wird, wenngleich ein wenig verschreckt durch die Nüchternheit der Wortwahl, die Gültigkeit dieser Definition nicht bestreiten wollen: So oder so ähnlich wird der Tod erlebt.
Der Begriff der Trauerarbeit hat in Deutschland nach 1945 eine in mehrfacher Hinsicht erstaunliche Erweiterung, um nicht zu sagen Entstellung erfahren, indem ein höchst intimer innerseelischer und zwischenmenschlicher Vorgang in den Rang eines erinnerungspolitischen Kampfbegriffs geraten ist, der vor allem die Funktion hat, die Deutschen anlässlich der einschlägigen Gedenktage in toto damit zu konfrontieren, dass sie, sei es aus konstitutioneller Schwäche oder böser Absicht, seit 60 Jahren die von ihnen erwartete psychische Arbeitsleistung nicht erbringen.
"Überall fällt einem auf", notierte Hannah Arendt während eines Deutschlandbesuches im Jahr 1946, "dass es keine Reaktionen auf das Geschehene gibt, aber es ist schwer zu sagen, ob es sich dabei um eine bewusste Weigerung oder um den Ausdruck einer echten Gefühlsunfähigkeit handelt. Die Gleichgültigkeit, mit der sich die Deutschen durch die Trümmer bewegen, findet ihre genaue Entsprechung darin, dass niemand um die Toten trauert." Es versteht sich von selbst, dass die der Vernichtung durch die Nationalsozialisten nur knapp entronnene Königsberger Philosophin alles Recht dieser Welt hatte, an der offensichtlichen Verschlossenheit ihrer Landsleute zu verzweifeln und das Menschenunmögliche einzuklagen: eine der Hekatombe der Kriegs- und Genozidopfer angemessene emotionale Resonanz.
Ob die durch die Generation der 68er repräsentierte moralische Elite der Nation über eine vergleichbare Legitimation verfügt, das von Margarete und Alexander Mitscherlich in Umlauf gebrachte Diktum der "Unfähigkeit zu trauern", für eine über den rückfallgefährdeten deutschen Patienten verhängten Dauerdiagnose zu missbrauchen, ist ebenso zweifelhaft wie der periodisch erneuerte Versuch, der medial gestützten kollektiven Trauerarbeit durch Worte, Werke und Gedanken zu einem überprüfbaren und sichtbaren Ausdruck zu verhelfen. "We ought to", schrieb Kurt Tucholsky in der Zwischenkriegszeit allen Propagandisten der Menschheitsveredelung ins Stammbuch, "but we don’t".
Dass man in Anbetracht des hierzulande herrschen Zwangscharakters der Trauer ausgerechnet in Frankfurt, wo sich seit 1990 mit der täterzentrierten Gedenkstunde in der Paulskirche und der opferzentrierten Gedächtnisfeier in der Westend-Synagoge ein gespenstisch anmutendes arbeitsteiliges Verfahren der Vergangenheitsbewältigung etabliert hat, Gelegenheit hatte, Zeuge einer Totenklage zu werden, die ihren Namen verdient, grenzt an ein Wunder. Im Oktober 2006 las der an der Schwelle zum Greisenalter stehende Walter Kempowski in der Sankt Katharinenkirche die Schlusskapitel aus seinem Roman "Alles umsonst." Kempowski, dem das mit den diversen Arbeiter- und Bauernparadiesen liebäugelnde linksliberale Juste Milieu seine achtjährige Inhaftierung in Bautzen bis heute nicht so recht verziehen hat, beschreibt aus der Perspektive eines zwölfjährigen Jungen die letzten Tage einer kleinen Gruppe von Menschen, die im Januar 1945 auf einem Gutshof in Ostpreußen im Zustand der seelischen und witterungsbedingten Erstarrung auf ihr Schicksal warten bis es sie ereilt. In einer Turnhalle, in der die Leichen in Teilen oder in Gänze aufgereiht sind, versinkt der verwaiste Zwölfjährige in der Betrachtung der Gliedmaßen seiner letzten Verwandten.
Wie sein kindliches Alter ego wahrt Kempowski die Distanz zum Geschehen durch die Kühle des Blicks und die Lakonie der Beschreibung. Für jeden Toten und jede Todesart erübrigt er einen einzigen dürren Satz. Sie ertrinken, erfrieren, verbrennen und was sie alle miteinander verbindet, ist die Lautlosigkeit ihres Sterbens: ohne einen Schrei. Auf dem Schlachtfeld zweier totalitärer Ersatzreligionen findet die Aufhebung der Differenz statt: die Gleichgültigkeit der Gewalt der äußeren Natur ist von der der inneren Natur des Menschen kaum mehr zu unterscheiden.
Das im Kirchenschiff von Sankt Katharinen versammelte Publikum verharrt im Zustand bewegungsloser Konzentration. - Wohin, frage ich mich im Hinausgehen, fallen die Menschen, die scheinbar umsonst gelebt haben, die niemand braucht, vermisst oder beweint? Der stille Archivar aus Nartum hat ihnen ein literarisches Denkmal gesetzt. Unseren kleinen Toten.
Günter Franzen, Jahrgang 1947, lebt als freier Schriftsteller und Gruppenanalytiker in Frankfurt/Main. Buchveröffentlichungen u.a.: "Der Mann, der auf Frauen flog", Hamburg 1988. "Komm zurück, Schimmi!", Hamburg 1992. "Ein Fenster zur Welt. Über Folter, Trauma und Gewalt", Frankfurt/Main 2000.
Der Begriff der Trauerarbeit hat in Deutschland nach 1945 eine in mehrfacher Hinsicht erstaunliche Erweiterung, um nicht zu sagen Entstellung erfahren, indem ein höchst intimer innerseelischer und zwischenmenschlicher Vorgang in den Rang eines erinnerungspolitischen Kampfbegriffs geraten ist, der vor allem die Funktion hat, die Deutschen anlässlich der einschlägigen Gedenktage in toto damit zu konfrontieren, dass sie, sei es aus konstitutioneller Schwäche oder böser Absicht, seit 60 Jahren die von ihnen erwartete psychische Arbeitsleistung nicht erbringen.
"Überall fällt einem auf", notierte Hannah Arendt während eines Deutschlandbesuches im Jahr 1946, "dass es keine Reaktionen auf das Geschehene gibt, aber es ist schwer zu sagen, ob es sich dabei um eine bewusste Weigerung oder um den Ausdruck einer echten Gefühlsunfähigkeit handelt. Die Gleichgültigkeit, mit der sich die Deutschen durch die Trümmer bewegen, findet ihre genaue Entsprechung darin, dass niemand um die Toten trauert." Es versteht sich von selbst, dass die der Vernichtung durch die Nationalsozialisten nur knapp entronnene Königsberger Philosophin alles Recht dieser Welt hatte, an der offensichtlichen Verschlossenheit ihrer Landsleute zu verzweifeln und das Menschenunmögliche einzuklagen: eine der Hekatombe der Kriegs- und Genozidopfer angemessene emotionale Resonanz.
Ob die durch die Generation der 68er repräsentierte moralische Elite der Nation über eine vergleichbare Legitimation verfügt, das von Margarete und Alexander Mitscherlich in Umlauf gebrachte Diktum der "Unfähigkeit zu trauern", für eine über den rückfallgefährdeten deutschen Patienten verhängten Dauerdiagnose zu missbrauchen, ist ebenso zweifelhaft wie der periodisch erneuerte Versuch, der medial gestützten kollektiven Trauerarbeit durch Worte, Werke und Gedanken zu einem überprüfbaren und sichtbaren Ausdruck zu verhelfen. "We ought to", schrieb Kurt Tucholsky in der Zwischenkriegszeit allen Propagandisten der Menschheitsveredelung ins Stammbuch, "but we don’t".
Dass man in Anbetracht des hierzulande herrschen Zwangscharakters der Trauer ausgerechnet in Frankfurt, wo sich seit 1990 mit der täterzentrierten Gedenkstunde in der Paulskirche und der opferzentrierten Gedächtnisfeier in der Westend-Synagoge ein gespenstisch anmutendes arbeitsteiliges Verfahren der Vergangenheitsbewältigung etabliert hat, Gelegenheit hatte, Zeuge einer Totenklage zu werden, die ihren Namen verdient, grenzt an ein Wunder. Im Oktober 2006 las der an der Schwelle zum Greisenalter stehende Walter Kempowski in der Sankt Katharinenkirche die Schlusskapitel aus seinem Roman "Alles umsonst." Kempowski, dem das mit den diversen Arbeiter- und Bauernparadiesen liebäugelnde linksliberale Juste Milieu seine achtjährige Inhaftierung in Bautzen bis heute nicht so recht verziehen hat, beschreibt aus der Perspektive eines zwölfjährigen Jungen die letzten Tage einer kleinen Gruppe von Menschen, die im Januar 1945 auf einem Gutshof in Ostpreußen im Zustand der seelischen und witterungsbedingten Erstarrung auf ihr Schicksal warten bis es sie ereilt. In einer Turnhalle, in der die Leichen in Teilen oder in Gänze aufgereiht sind, versinkt der verwaiste Zwölfjährige in der Betrachtung der Gliedmaßen seiner letzten Verwandten.
Wie sein kindliches Alter ego wahrt Kempowski die Distanz zum Geschehen durch die Kühle des Blicks und die Lakonie der Beschreibung. Für jeden Toten und jede Todesart erübrigt er einen einzigen dürren Satz. Sie ertrinken, erfrieren, verbrennen und was sie alle miteinander verbindet, ist die Lautlosigkeit ihres Sterbens: ohne einen Schrei. Auf dem Schlachtfeld zweier totalitärer Ersatzreligionen findet die Aufhebung der Differenz statt: die Gleichgültigkeit der Gewalt der äußeren Natur ist von der der inneren Natur des Menschen kaum mehr zu unterscheiden.
Das im Kirchenschiff von Sankt Katharinen versammelte Publikum verharrt im Zustand bewegungsloser Konzentration. - Wohin, frage ich mich im Hinausgehen, fallen die Menschen, die scheinbar umsonst gelebt haben, die niemand braucht, vermisst oder beweint? Der stille Archivar aus Nartum hat ihnen ein literarisches Denkmal gesetzt. Unseren kleinen Toten.
Günter Franzen, Jahrgang 1947, lebt als freier Schriftsteller und Gruppenanalytiker in Frankfurt/Main. Buchveröffentlichungen u.a.: "Der Mann, der auf Frauen flog", Hamburg 1988. "Komm zurück, Schimmi!", Hamburg 1992. "Ein Fenster zur Welt. Über Folter, Trauma und Gewalt", Frankfurt/Main 2000.