Koexistenz konkurrierender Wertvorstellungen

Jérôme Bindé, Herausgeber dieses Buches, ist Vorsitzender der UNESCO-Kommission für Geisteswissenschaften und Zukunftsforschung. Es war seine Idee, eine Konferenz internationaler Größen aus Philosophie, Wissenschaft und Kunst einzuberufen. Das Thema: "Die Zukunft der Werte. Dialoge über das 21. Jahrhundert."
Diese Konferenz, oder besser: diese Diskussionsrunde mit internationaler Besetzung tagte regelmäßig an verschiedenen Orten der Welt und hat insgesamt fünf Jahre gedauert, von 1997 bis 2001. Die wichtigsten Beiträge der Debatte hat Jérôme Bindé jetzt in einem kleinen Bändchen zusammengestellt, das im Suhrkamp-Verlag erschienen ist.

Was die Diskussionspartner betrifft, so haben Bindé und die UNESCO eine ausgezeichnete Wahl getroffen und eine Gesellschaft origineller Denker aus aller Welt an einem Tisch versammelt. Jacques Derrida, Jean Baudrillard und Paul Ricoeur, alle inzwischen verstorben, waren damals mit von der Partie, genauso wie Gianni Vattimo, Wolfgang Welsch und Peter Sloterdijk, allesamt Repräsentanten des Geistes der westlichen Welt. Die arabische, die indische, die afrikanische Kultur waren ebenso vertreten, zum Beispiel durch Mohammed Arkoun, einen algerischen Moslem, oder Souleyman Bachir Diagne von der Universität in Dakar.

Eines allerdings fällt auf: Die Frauen waren in dieser Runde eindeutig in der Minderheit, ganze drei durften mitreden (die Psycholanalytikerin Julia Kristeva, die Literatur-Nobelpreisträgerin Nadine Gordimer und Hélé Béji, eine Schriftstellerin aus Tunesien) in Gesellschaft von 22 Männern.

Der erste Teil des Buches ist eine Bestandsaufnahme. Die Diskussionspartner und -partnerinnen sind sich weitgehend einig: Wir leben in einem Jahrhundert, wo sehr verschiedenen Kulturen mit sehr verschiedenen, ja konkurrierenden Wertvorstellungen einen ersten, schwierigen Versuch der Koexistenz unternehmen. Das Projekt steckt freilich in Kinderschuhen. Es kann jeden Tag endgültig scheitern, und es scheitert jeden Tag und überall, wo immer auf dieser Erde mit den alten Mitteln der Gewalt gestritten wird, ob mit Hilfe von Panzern, Selbstmord-Attentätern oder politischen Intrigen.

Dennoch sind die hier versammelten Denker guten Mutes und voll Idealismus. Theoretisch zumindest, so meinen sie, lassen sich alle Konflikte zwischen Menschen mit friedlichen Mitteln lösen. Freilich sind da Vernunft und guter Wille gefragt, in erster Linie aber die Fähigkeit, ein Stück weit in den Schuhen der Anderen zu gehen, sprich: den Horizont der eigenen Kultur denkend zu überschreiten und die Probleme aus der Beobachter-Perspektive zu wahrzunehmen.

Perspektiv-Wechsel. Hier gehen viele Autoren dieses Buches mit gutem Beispiel voran. Gianni Vattimo zum Beispiel, Philosoph aus Turin und lange Jahre Abgeordneter im Europäischen Parlament, bringt zunächst den alltäglichen Wertekanon unserer westlichen Welt auf den Begriff. Die Kultur, in der wir leben, stellt Vattimo fest, ist verglichen mit anderen übermäßig kapital- und konsumorientiert. Der Prototyp der westlichen Kultur ist der kaufwütige Egomane, der voll und ganz beschäftigt ist mit Selbst-Inszenierung und Selbst-Bespiegelung. In der totalen Kapital-Wirtschaft gibt es keinen verbindlichen Werte-Kanon. Hier gilt "Anything goes!". Denn nur, wo alle möglichen Lebens-Inszenierungen samt wechselnder Moden erlaubt und erwünscht sind, lässt sich auch alles Mögliche verkaufen.

Gianni Vattimos kulturkritischer Scharfblick macht Front gegen jegliches Ansinnen, die Welt des 21. Jahrhunderts nach westlichem Muster modernisieren zu wollen und etwa zu glauben, auf diese Weise werde das Glück der Menschheit vollkommen. Im Gegenteil, meint Vattimo: das wäre die eigentliche Katastrophe. Der Philosoph aus Turin plädiert rundheraus für einen "Mut zum Untergang", den sich eine vernünftig gewordene westliche Zivilisation selbst zu verordnen habe, und für eine neue "Kultur der Bescheidenheit", sprich: für eine Kultur des mündigen Konsumenten, der auch bewusst verzichten kann. Nur wenn sich der Westen in diesem Sinne transformiert, gehören Traumata wie der 11. September 2001 der Vergangenheit an. Anderenfalls, schreibt Vattimo, werden sie unsere Zukunft bestimmen.

Die Aufsätze in diesem Buch sind als Diskussionsbeiträge konzipiert und mehrheitlich mit leichter Hand verfasst. Manche sind wunderbar polemisch, andere eher nüchtern und von bestechend klarer Argumentation. Dieses Buch ist Geisteswissenschaft auf der Höhe unserer Zeit. Es versammelt eine Fülle prägnanter, humaner Gedanken über Weltethos und Weltkultur.

Rezensiert von Susanne Mack

Jérôme Bindé (Hrsg.): Die Zukunft der Werte. Dialoge über das 21. Jahrhundert
Suhrkamp Verlag, Dezember 2007
333 Seiten. 12,00 Euro.