"Körperwelten"

Humanscheibletten am Alexanderplatz

Von Pieke Biermann · 29.04.2014
Am Berliner Alexanderplatz wird es bald gläserne Leichen zu sehen geben, die Plastinate des Präparators Gunther von Hagens. Unsere Autorin Pieke Biermann findet die Wahl dieses Standorts auf entlarvende Weise schlüssig.
Vertrauen ist out, Kontrolle – nun ja, die riecht ein wenig streng. Das ist ein Ausfluss des konservativ-neoliberalen Projekts aus dem letzten Jahrhundert. So wie, sagen wir, die Umwidmung von Geiz zur Erektionshilfe und Gier zum Entree-Billet in Führungspositionen.
Gewisse Werte zu erhalten ist damit allerdings eher noch dringlicher geworden. Aber "konservativ" klingt auch nicht mehr so cool. Also heißt das neue "konservativ" Nachhaltigkeit und ist heute ein zivilgesellschaftlicher Schlüsselbegriff wie Transparenz.
"Transparenz schafft Vertrauen", heißt es und ist das Herzstück demokratischer Mitbestimmung durch Urteilsfähigkeit. Alle wollen Transparenz – Bürgerinitiativen und Betroffene jeder Art von Fluglärm bis Pflegeeinrichtung. "Transparentere Blusen, bitte!" betitelte die "Süddeutsche Zeitung" gerade eine Seite über Aktivisten der Modebranche gegen mörderische Textilfabriken.
Röntgen-Striptease an Flughäfen
Transparenz meint Kontrolle von unten gegen die Heimlichtuer oben. Dank Internet und WikiLeaks ist manches Geheimgewese von Diplomaten und Drohnendirigenten auch schon sehr schön durchleuchtet. Leider erweist sich Transparenz inzwischen auch als unangenehm duale Angelegenheit: Edward Snowdens Datensticks haben jüngst aller Welt durchsichtig gemacht, dass längst alle Welt durchsichtig ist – wenn auch bisher "nur" für Geheimdienste und deren politische Arme sowie für interessierte Internetgiganten.
Ältere Mitbürger fühlen sich schmerzhaft erinnert an Debatten über Volkszählungen und den "gläsernen Bürger". Damals übrigens hatte Neil Postman das Fernsehen als Verblödungsmaschinerie enttarnt.
Heute, im Zeitalter der quasi-totalen Vernetztheit, sind das quasi-bukolische Bedrohungen. Heute gilt ausgerechnet das Fernsehen als seriöser Informationsvertrieb, der uns die Welt durchsichtig macht – kompetenzkontrolliert, in verdaubaren Portionen. Heute sind wir nicht mehr nur steuer-, gesundheits- und konsumdurchsichtig und an Röntgen-Striptease an Flughäfen gewöhnt.
Seit Hagens sind wir geradezu tiefentransparent
Seit Gunther Liebchen, verheirateter von Hagens, entdeckt hat, wie man auch große Brocken organisches Material plastinieren und damit tote Menschen attraktiv arrangieren kann – en gros und in durchsichtigen Scheiben en détail – sind wir geradezu tiefentransparent: Bis ins Innerste unserer Körperwelt hinein. Ein Kollateralschaden der Transparenzromantik, camoufliert als Aufklärung.
Und einträglich. "40 Millionen Menschen in aller Welt" haben die Exhibitionen jenes Herrn angeblich schon gesehen. Manche nennen ihn Dr. Tod, schließlich verhilft er dem schönen alten Wort Leichenschauhaus zu frischem Schauder. Andere sehen eine prima Alternative zum Organspenden, das dank ein paar intransparenter Abwicklungen etwas Vertrauen eingebüßt hat, und spenden ihre Leiche in spe lieber für plastinierte "Körperwelten".
Die nun bekommen in diesem Herbst eine Heimat in Berlin: Zwölfhundert Quadratmeter im ersten Stock des Pavillons am Fuß des – Fernsehturms! Einst verspottet als Telespargel zur Desinformation des DDR-Bürgers, heute Verteiler für zig Radio- und Fernsehsender, analog wie digital, zur Information des Bundesbürgers.
Protest wird laut. Kinder und andere zarte Seelen könnten traumatisiert werden vom Anblick bizarrer Leichen. Nein, keine Angst, der Eingang zum Panoramarestaurant liegt auf der anderen Seite.
Der neue Standort der "Körperwelten" ist einfach Berliner Witz vom Feinsten: Wo wären transparente Humanscheibletten besser aufgehoben als da, wo oben drüber die Welt nachhaltig transparent gemacht wird? In verdaubaren Portionen: scheibchenweise.
Pieke Biermann, Jahrgang 1950, lebt und arbeitet als freie Schriftstellerin, Übersetzerin und Journalistin in Berlin. Eben erschien eine Neuauflage ihres soziologischen Klassikers von 1980: "Wir sind Frauen wie andere auch. Prostituierte und ihre Kämpfe"
Die Autorin und Übersetzerin Pieke Biermann
Die Autorin und Übersetzerin Pieke Biermann© privat
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