Können statt Kennen

Er nennt sich einen "Text-Archäologen" und betont die Bedeutung der Klassischen Philologie für die Gegenwart: Alleine die rein materielle Versorgung des Menschen ermögliche kein sinnvolles gesellschaftliches Zusammenleben, so der Münchener Gräzist Oliver Primavesi.
Der Münchner Gräzist Oliver Primavesi ist heute mit dem am höchsten dotierten deutschen Wissenschaftspreis ausgezeichnet worden und erhält für seine weitere Arbeit 2,5 Millionen Euro. Der Preis wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft verliehen. Primavesi ist Professor am Institut für Klassische Philologie der Ludwigs-Maximilians-Universität München.

Er habe sein Fach, die Klassische Philologie, "mit der antiken Philosophie ins Gespräch" gebracht, so die Begründung. Konkret nennt Primavesi sich einen "Text-Archäologen", der den Philosophen durch seine Forschungsarbeit das benötigte Material zur Verfügung stellt - etwa philosophische Schriften aus der Zeit vor Platon und Aristoteles, die nur sehr unvollständig erhalten sind.

Diese Schriften haben nach Primavesis Ansicht auch für die heutige Gesellschaft eine große Bedeutung. Als Beispiel nennt er die Lehrgedichte von Empedokles. Dieser habe versucht, zwei scheinbar gegensätzliche Perspektiven auf die Welt in Beziehung zu setzen: einerseits die rein naturwissenschaftliche Perspektive, die dem Menschen einen "höchst fragwürdigen und peripheren Platz in einer von Naturgesetzen geregelten und in großen kosmischen Zyklen sich vollziehenden Weltgeschehen anweisen". Andererseits die Fragen, Hoffnungen, Befürchtungen und Sehnsüchte des Menschen, die in solchen naturwissenschaftlichen Erklärungen keinen Platz fänden.

Dies sei heute wichtiger denn je, so Primavesi: dass die rein materielle Versorgung des Menschen kein "als befriedigend und sinnvoll wirkendes gesellschaftliches Zusammenleben" ermöglichen könne. Die Geisteswissenschaften könnten helfen, derartige Diskussionen anzustoßen. Passive Menschen "im Fernsehsessel" seien aber kaum zu erreichen; nötig sei eine "aktive Geisteshaltung" in der Bevölkerung.

In diesem Zusammenhang kritisierte Primavesi das deutsche Schulwesen. In seiner bisherigen Form gleiche es einem "bunten Sammelsurium mit Supermarktmentalität" und fördere kein echtes Können, sondern bloßes Kennen. Ein möglicher erster Schritt könne die Reduktion der Schulfächer sein, um in weniger Fächern ein "täglich geübtes Können" zu erreichen. Eine aktivere Geisteshaltung müsse zur "kulturellen Selbstverständlichkeit" werden.
Oliver Primavesi, Gottfried Wilhelm Leibniz-Preisträger 2007
Oliver Primavesi, Gottfried Wilhelm Leibniz-Preisträger 2007© Deutsche Forschungsgemeinschaft