Königsberg
Was für eine Stadt … Mit einem Dom, der keine Kirche ist. Mit einem Grabmahl, das zu keinem Friedhof gehört. Mit einer Altstadt, die nicht alt ist. Mit Gräbern, die vergessen scheinen. Mit einer Geschichte, die beinahe vernichtet wurde. Mit Verletzungen, die noch heute schmerzen.
Sechseinhalb Jahrzehnte nachdem Königsberg fast umgebracht wurde. Der Gang durch die Stadt tut weh. Sie ächzt und windet sich. Lässt Ahnungen, kurze Einblicke zu. Verschließt sich. Sie ist ein fortwährendes Mahnmal. Die Narben sind zu besichtigen.
Der Litovski Val. Die Litauer Wallstraße. Büsche, Hecken, Bäume, Gräser, verfallene Steine.
Kein Mensch weit und breit. Der Nordosten der Stadt mit seiner alten Wallstraße, der Grollmannbastion, der Kronprinzenkaserne. Die einstige Stadtbefestigung. Lastwagen, Busse, Pkw in endloser Schlange. Benzingestank. Motorenlärm. Hin zum östlichen Königstor.
Die Steine in dem Gestrüpp tragen hebräische Schriftzeichen. Es ist der alte jüdische Friedhof. Mehr als 300 Jahre alt. Geld für seine Pflege gibt es nicht, für einen Zaun auch nicht. Die jüdische Gemeinde ist arm. 2000 Menschen sind es wieder. 62 Jahre nach der brutalen Vertreibung ihrer Vorfahren aus der Stadt. Hinaus nach Westen. Nach Palmnicken.
Es ist der 20. Januar 1945. Die Einheiten der sowjetischen Armee stehen 40 Kilometer vor Königsberg. Seit dem 12. greifen sie an. Die SS räumt die KZ-Außenlager Schippenbeil und Gerdauen, Jesau, Heiligenbeil und Seerappen. Etwa 7000 ungarische und polnische Juden, hungernd, frierend, werden in die Stadt verfrachtet. Auf dem Weg an die Küste, nach Palmnicken stirbt mehr als die Hälfte von ihnen. Verhungert. Erschossen. Die Nazis wollen die Überlebenden in einem Bergwerk einschließen. In der Annagrube. Der Direktor weigert sich. Begeht Selbstmord. Die SS unter dem Befehl von Fritz Weber jagt ihre Opfer an den Strand auf die zugefrorene Ostsee. Mäht sie mit Maschinengewehrsalven nieder. 15 überleben. Ein größeres Massaker hat es in Ostpreußen nicht gegeben. Es ist das letzte der Nazis. Weber bringt sich 1965 in der Untersuchungshaft um. Es gibt einen Gedenkstein bei der Grube Anna in Palmnicken. 1933 leben in Königsberg 3200 Juden. Zehn Jahre später keine mehr. In der Stadt am Pregel gibt es ein kleines Mahnmal, das mehr als 50 Jahre später errichtet wird.
Der Weg vom Königstor führt über die Frunse, der einstigen Königsstraße. Sie beginnt am östlichen Stadtrand, weist nach Westen und endet am Schlossteich. Mitten in der Stadt. Die kein Zentrum, keine Altstadt mehr hat. Ein Gedenkstein. Hier war das Haus von E.T.A. Hoffmann. Hier standen die Mühlen der Ordensritter, die Königsberger Burgkirche. - Ein Betonklotz aus sowjetischen Zeiten. Der Radio- und Fernsehsender. Über die Brücke der Weg zur Kant-Universität. Ein Denkmal erinnert an den U-Boot-Kommandanten Alexander Marinesko. Er hat am 30. Januar 1945 das Flüchtlingsschiff "Wilhelm Gustloff" versenkt. 9000 Menschen ertranken in der Ostsee. Das Denkmal wurde 2002 errichtet.
Auf einer Bank am Fuß der Brücke zwei Frauen. Die Haare geknotet. Kopftücher. Geblümt. Graubraune Röcke, weiße Blusen. Schwarze Halbschule. Schwarze Handtaschen. Ein paar Bücher neben sich. Sie sind Dozentinnen an der Uni. 250 US-Dollar, umgerechnet, ist ihr Monatseinkommen. Das ist wenig in Kaliningrad, der Stadt des Bau- und Konsumbooms. In das der Petersburger Putin soviel Geld rein pumpt. Er will die Stadt mit ihren gut 425.000 Einwohnern und die gesamte Enklave zum einem Wirtschaftszentrum machen. Zu einem wissenschaftlichen, militärischen mit einem modernen Hafen, der ständig ausgebaut wird. Den beiden Frauen, Irinia Dimitrenko und Larissa Woroschilowa gefällt das. Sie wollen, dass das Grau des Kommunismus, der Staub der Geschichte verschwindet. Endlich passiert etwas, sagen sie. Der Putin macht das richtig. Das hat ja schon die 750-Jahr-Feier 2005 gezeigt.
Seit 1992 blickt Kant von seinem roten Marmorsockel wieder auf die Studenten und Dozenten herab. Seit 2005 trägt die Universität seinen Namen.
Wir gehen am Ploschtschad Centralnaja, am zentralen Platz der Stadt vorbei, die Kneiphöfsche Langgasse, den heutigen Leninskij Prospekt, entlang. Eine drei Kilometer lange Schneise vom Südbahnhof zum Siegesplatz, wie der Zentralplatz heute heißt. Die meisten Reste der Stadt sind unter dem in kommunistischer Zeit ausgegossenem Beton verschwunden.
Am frühen Abend gibt es in der Kultdisko der Stadt, dem Wagonka, ein Live-Konzert. Die russische Band DDT wird spielen. Und wenn die das Lied Rodina anstimmt, flippt der ganze Laden aus und grölt mit. Rodina heißt Heimat.
Jörg Hafkemeyer hat elf Jahre als Korrespondent aus Südamerika berichtet. Jetzt arbeitet er als freier Autor für öffentlich-rechtliche Fernseh- und Hörfunksender. Außerdem wirkt er als Dozent an der Universität der Künste in Berlin.
Der Litovski Val. Die Litauer Wallstraße. Büsche, Hecken, Bäume, Gräser, verfallene Steine.
Kein Mensch weit und breit. Der Nordosten der Stadt mit seiner alten Wallstraße, der Grollmannbastion, der Kronprinzenkaserne. Die einstige Stadtbefestigung. Lastwagen, Busse, Pkw in endloser Schlange. Benzingestank. Motorenlärm. Hin zum östlichen Königstor.
Die Steine in dem Gestrüpp tragen hebräische Schriftzeichen. Es ist der alte jüdische Friedhof. Mehr als 300 Jahre alt. Geld für seine Pflege gibt es nicht, für einen Zaun auch nicht. Die jüdische Gemeinde ist arm. 2000 Menschen sind es wieder. 62 Jahre nach der brutalen Vertreibung ihrer Vorfahren aus der Stadt. Hinaus nach Westen. Nach Palmnicken.
Es ist der 20. Januar 1945. Die Einheiten der sowjetischen Armee stehen 40 Kilometer vor Königsberg. Seit dem 12. greifen sie an. Die SS räumt die KZ-Außenlager Schippenbeil und Gerdauen, Jesau, Heiligenbeil und Seerappen. Etwa 7000 ungarische und polnische Juden, hungernd, frierend, werden in die Stadt verfrachtet. Auf dem Weg an die Küste, nach Palmnicken stirbt mehr als die Hälfte von ihnen. Verhungert. Erschossen. Die Nazis wollen die Überlebenden in einem Bergwerk einschließen. In der Annagrube. Der Direktor weigert sich. Begeht Selbstmord. Die SS unter dem Befehl von Fritz Weber jagt ihre Opfer an den Strand auf die zugefrorene Ostsee. Mäht sie mit Maschinengewehrsalven nieder. 15 überleben. Ein größeres Massaker hat es in Ostpreußen nicht gegeben. Es ist das letzte der Nazis. Weber bringt sich 1965 in der Untersuchungshaft um. Es gibt einen Gedenkstein bei der Grube Anna in Palmnicken. 1933 leben in Königsberg 3200 Juden. Zehn Jahre später keine mehr. In der Stadt am Pregel gibt es ein kleines Mahnmal, das mehr als 50 Jahre später errichtet wird.
Der Weg vom Königstor führt über die Frunse, der einstigen Königsstraße. Sie beginnt am östlichen Stadtrand, weist nach Westen und endet am Schlossteich. Mitten in der Stadt. Die kein Zentrum, keine Altstadt mehr hat. Ein Gedenkstein. Hier war das Haus von E.T.A. Hoffmann. Hier standen die Mühlen der Ordensritter, die Königsberger Burgkirche. - Ein Betonklotz aus sowjetischen Zeiten. Der Radio- und Fernsehsender. Über die Brücke der Weg zur Kant-Universität. Ein Denkmal erinnert an den U-Boot-Kommandanten Alexander Marinesko. Er hat am 30. Januar 1945 das Flüchtlingsschiff "Wilhelm Gustloff" versenkt. 9000 Menschen ertranken in der Ostsee. Das Denkmal wurde 2002 errichtet.
Auf einer Bank am Fuß der Brücke zwei Frauen. Die Haare geknotet. Kopftücher. Geblümt. Graubraune Röcke, weiße Blusen. Schwarze Halbschule. Schwarze Handtaschen. Ein paar Bücher neben sich. Sie sind Dozentinnen an der Uni. 250 US-Dollar, umgerechnet, ist ihr Monatseinkommen. Das ist wenig in Kaliningrad, der Stadt des Bau- und Konsumbooms. In das der Petersburger Putin soviel Geld rein pumpt. Er will die Stadt mit ihren gut 425.000 Einwohnern und die gesamte Enklave zum einem Wirtschaftszentrum machen. Zu einem wissenschaftlichen, militärischen mit einem modernen Hafen, der ständig ausgebaut wird. Den beiden Frauen, Irinia Dimitrenko und Larissa Woroschilowa gefällt das. Sie wollen, dass das Grau des Kommunismus, der Staub der Geschichte verschwindet. Endlich passiert etwas, sagen sie. Der Putin macht das richtig. Das hat ja schon die 750-Jahr-Feier 2005 gezeigt.
Seit 1992 blickt Kant von seinem roten Marmorsockel wieder auf die Studenten und Dozenten herab. Seit 2005 trägt die Universität seinen Namen.
Wir gehen am Ploschtschad Centralnaja, am zentralen Platz der Stadt vorbei, die Kneiphöfsche Langgasse, den heutigen Leninskij Prospekt, entlang. Eine drei Kilometer lange Schneise vom Südbahnhof zum Siegesplatz, wie der Zentralplatz heute heißt. Die meisten Reste der Stadt sind unter dem in kommunistischer Zeit ausgegossenem Beton verschwunden.
Am frühen Abend gibt es in der Kultdisko der Stadt, dem Wagonka, ein Live-Konzert. Die russische Band DDT wird spielen. Und wenn die das Lied Rodina anstimmt, flippt der ganze Laden aus und grölt mit. Rodina heißt Heimat.
Jörg Hafkemeyer hat elf Jahre als Korrespondent aus Südamerika berichtet. Jetzt arbeitet er als freier Autor für öffentlich-rechtliche Fernseh- und Hörfunksender. Außerdem wirkt er als Dozent an der Universität der Künste in Berlin.