Köhler und das Verfassungsgericht

Von Hans Jürgen Fink |
Die Berliner Springprozession zur Neuwahl des Bundestages hat mit der Entscheidung des Bundespräsidenten eine weitere Hürde genommen, am Ziel aber ist sie noch nicht. Davor stehen die Hüter des Grundgesetzes im Karlsruher Bundesverfassungsgericht. Wie deren Spruch am Ende aussehen wird, scheint auch nach Köhlers Votum völlig offen zu sein.
Ob das Volk mehrheitlich Neuwahlen wünscht, wie es den Zustand des Landes beurteilt und ob die Parteien ihre Wahlkampfmaschinerien bereits auf Hochtouren fahren, das alles hat die Richter nicht sonderlich zu interessieren. Auch die außerordentlichen Wirrungen und Verwerfungen, die sie im Lande auslösen würden, sollten sie doch nein zu Neuwahlen sagen, dürften ihre juristischen Erwägungen im Prinzip nicht tangieren. Dennoch: Folgen sie dem, was ihre Vorgänger 1983 für Recht und für richtig befunden haben, so müsste jetzt eigentlich vor ihren Augen bestehen, was der Bundespräsident soeben besiegelt hat. Selbst wenn die unechte und wie manche sagen: unehrliche Vertrauensfrage des Kanzlers im Lichte der Verfassungsdogmatik höchst verwerflich erscheint, dürfte es schwer fallen zu beweisen, dass Schröder im Missbrauch der Vertrauensfrage weitergegangen sei als sein Vorgänger Kohl. Das Gegenteil ist erkennbar der Fall.

Zwei Abgeordneten des deutschen Bundestages ist es zu danken, dass sich das höchste deutsche Gericht mit den Spielregeln des Parlaments demnächst zu beschäftigen hat. Dafür ist namentlich Werner Schulz, Bürgerrechtler in der mit seiner tätigen Mitwirkung verflossenen DDR, von seinen Kolleginnen und Kollegen auf fast niederträchtige Weise gemobbt und gescholten worden. Dabei hat er, sieht man einmal ab von seinem deplatzierten Volkskammer-Vergleich, seinen Kolleginnen und Kollegen auf fast fundamentalistische Weise in Erinnerung gerufen, dass sie nicht nur ihre eigene Würde, sondern den Verfassungsrang der Institution aufs Höchste gefährden, wenn sie sich, wie geschehen, als Marionetten eines schier allmächtigen Kanzlers missbrauchen lassen.

Wie immer das Verfassungsgericht über ihre Klagen entscheidet – beide Abgeordnete hätten schon dann einen Erfolg für das Parlament als Ganzes errungen, sollten die Richter in ihrer Urteilsbegründung den Gesetzgeber einmal mehr mahnen, die Auflösung des Parlaments so zu regeln, dass sie einzig und allein in den Händen der Abgeordneten liegt: Ein Selbstauflösungsrecht des Bundestages, wie es etwa sein Präsident Thierse jetzt ins Spiel gebracht hat. Verbunden mit einem Quorum, das einen Missbrauch verhindert und Minderheiten im Parlament schützt. Mag man des Kanzlers Vorgehen und das Verhalten der Abgeordneten auch als bloßen Taschenspielertrick, als absurdes Theater disqualifizieren oder auch als wahrhafte Einsicht in Vertrauensnöte und Vertrauensverlust werten – eines ist sicher: das Schauspiel, das nun seit Wochen in Berlin zu besichtigen war, hat das Vertrauen der Bevölkerung in die Glaubwürdigkeit und Ernsthaftigkeit der politischen Klasse nicht nur nicht zu stärken vermocht, sondern weiter beschädigt. Dieser Verlust aber wiegt weit schwerer als die Beschwörung von Weimar, die den Realitäten von heute ohnehin nicht entspricht. Damals übrigens war es der Reichspräsident, der allein das Parlament auflösen konnte.

Gewiss würde ein parlamentarisches Selbstauflösungsrecht die Stellung des Verfassungsorgans Bundespräsident beschränken, die Köhler in diesen Tagen mit seinem langen Schweigen mehr oder minder eindrucksvoll auszuspielen versuchte. Eingeklemmt zwischen Kanzler, Parlament und Verfassungsgericht ist diese Signatarmacht des Staatsoberhaupts in Wahrheit allerdings nicht viel mehr als ein schöner Schein. Was Kanzler und Parlament wollen, so lautet doch die Botschaft dieser sommerlichen Polit-Inszenierung, kann der Präsident nicht verhindern. Nicht einmal dem Wahlkampfgetöse der Parteien hat Köhler jetzt widersprochen, das lange vor seiner Unterschrift über das Land zog, so, als komme es eben auf diese Unterschrift gar nicht erst an. Schon um seiner Selbstachtung willen hätte er an dieser Stelle ein deutliches Wort sprechen müssen, statt sich in befremdlichen Krisen- und Untergangsszenarien zu ergehen, um sein Ja zu Neuwahlen zu begründen. Und, auch dies ist zu fragen, welchen Schaden müsste die Autorität seines Amtes erst leiden, würde seine Entscheidung in der Vertrauensfrage von den Richtern in den roten Roben kassiert?

Alles in allem wäre es mithin für die Demokratie durchaus ein Gewinn, könnte das Parlament seine Legislatur aus eigenem Recht beenden. Den politischen Akteuren blieben peinliche Verrenkungen der zu besichtigenden Art erspart, dem Souverän würde ein klarer Durchblick ermöglicht, Bundespräsident wie Verfassungsgericht würden nicht in Situationen hineingezogen, die sich zu einer veritabeln politischen, wenn nicht zur Staatskrise ausweiten könnten. Insofern wäre zu wünschen und hoffen, dass die Damen und Herren, die demnächst im Deutschen Bundestag sitzen werden, diese Reform beizeiten in Angriff nehmen.