Kochkunst als Teil der documenta

Von Jochanan Shelliem · 14.06.2007
Ferran Adriá gilt als der innovativste, kreativste, der verrückteste Koch auf Erden. Als ihn Roger M. Buergel als Künstler nach Kassel zur documenta einlud, freute sich der Katalane. Doch das Angebot schlug er aus. Nun wird Adriás Restaurant in Nordspanien zum documenta-Standort.
Drei, sechs, neun, zwölf, fünfzehn Köche köcheln vor sich hin. Es sieht nicht aus wie eine Küche. Der Herd steht wie ein Tisch auf eisernen Beinen. Ferran sitzt an einem Computer und überlegt sich was. Außerdem gibt es noch einen Alutisch, auf dem angerichtet wird.

"Ich betrachte mich nicht als Künstler, ich betrachte mich als Koch."

50 Personen speisen jede Nacht im El Bulli, 8000 Plätze stehen pro Saison 800.000 Anfragen gegenüber und die endet am ersten Sonntag im Oktober.

"Ich habe nie Koch werden wollen, zufällig bin ich Koch geworden und dieser Zufall hat mein Leben geprägt. Ich studierte Betriebswirtschaft und fand mich in einer Küche auf den Balearen wieder, als ich mir in den Ferien eine Arbeit suchte. Erst wusch ich die Teller, dann kam ich in die Küche, so fing ich meine Laufbahn mit einem Zufall an."

"Wenn bei der Feuerwehr was frei gewesen wäre," sagt Ferran Adrià, "wäre ich heute eben Feuerwehrmann." – Oder Brandstifter.

"Was mich in der Küche von Anfang an beschäftigt hat, das waren Fragen. Immer habe ich darüber nachgedacht, warum sich etwas entwickelt, wie etwas geschieht und wo. Das 'Was, Wo und Warum', das sind und waren meine Instrumente. Und weil ich weder als Lehrling in der Küche begonnen noch das Gastwirtschaftsgewerbe studiert habe, beschäftigen mich diese Fragen auch noch heute."

Nach dem Militärdienst machte er dann eine Kochlehre und wurde der erste Küchenchef am Ende der Welt: Im El Bulli, einem unbedeutenden Lokal mit Blick über eine Ferienkolonie an der abgelegenen Cala Montjoi. Kurz vor der französischen Grenze, von Roses aus an der Costa Brava über eine schmale Serpentinenstrecke zwischen machiabewachsenen Hügelkuppen und der felsigen Steilküste der Bucht gegenüber den Touristenwaben von Empuriabrava zu erreichen; von Barcelona, wo Adrià aufgewachsen war, fast zwei Stunden entfernt. Er ist 22 Jahre alt, als er beschließt, sich auf das Abenteuer Kochen einzulassen.

"Es gibt eine ganze Reihe von Konzeptionen, die wir entwickelt haben und die in der Spitzenküche zuvor unvorstellbar gewesen sind. Die Verschmelzung extremer Temperaturunterschiede in einem Gericht war in der Spitzenküche nicht normal. Auch die Konzentration auf die Textur der Speisen, die Ironie, die manchen unserer Kreationen innewohnt. Spitzenköche arbeiteten früher nicht mit Humor, sie provozierten die Gäste nicht, um ihre Sinne zu schärfen. Sie haben ihre Speisen nicht als Element zur Reflektion gesehen, bevor wir es getan haben."

Ferran sitzt an einem Computer und überlegt sich was. In der Hand hält er einem Bleistift. Einen Raum weiter, durch ein Sichtfenster getrennt, von der heißen Küche, die kalte Küche, und dann, wiederum abgetrennt durch Kühlschränke, Kühlaggregate für die Patisserie, die eingebaut sind in schwarzen Marmor. Und schließlich eine chinesisch aussehende Frau. Sie tunkt etwas in flüssigen Stickstoff und richtet es dann auf einer Glasplatte an.

"Es gab in der Küche drei Revolutionen, drei Bewegungen, die das Kochen radikall neu geprägt haben. Um 1900 hat Auguste Escoffier die Grundlagen der traditionellen Küche festgeschrieben, in den Sechzigern gab es die Revolution durch die Nouvelle Cuisine und heute können wir vielleicht von einer neuen radikalen Phase sprechen, die man als die spanische Küche der Avantgarde bezeichnen kann."

Und dann ruft Adrià nach Kugelschreiber und Papier. Wie alle Interviews dient ihm auch unser Gespräch als Suche nach der treffenden Bezeichnung, dem nie gesagten Satz, der seinen kreativen Prozess am besten fasst, und der muss sofort festgehalten werden. Darum beantwortet er die meisten Fragen schon, bevor der Satz vollendet ist. Der kleine korpulente Mann steht immer unter Strom.

"Nein, Steaks haben wir damals im El Bulli nicht gegrillt, manchmal gab’s vielleicht etwas mit einem Lendenstück. In der Spitzenküche arbeitet man nicht mit Steaks. Die Spitzenküche will den Gast zwar auch befriedigen, doch ich suche auch nach neuen Wegen, nach der Befriedigung, die Grenzen dessen zu erkunden, was man riechen, fühlen, sehen, schmecken kann. Wer mich dabei begleiten will auf dieser Suche nach den Grenzen der Kreativität, wer sich diesem kreativen Prozess in der Küche aussetzen will, dem wird gefallen, was ich ihm serviere."

Was gestern noch in der Küche galt, stellt Ferran Adrià infrage. Bei ihm isst man nicht, was man sieht. Und was man sieht, schmeckt anders, als das Auge es erwartet. Ob der Hummer als Konzentrat aus der Pipette kommt oder der Kaviar aus dem Fruchtfleisch einer Melone besteht. Aus salzig wird im El Bulli süß. Textur und Konsistenz, Spielmaterial für den Konzeptkünstler, die Aggregatzustände: fest, flüssig, gasförmig, extreme Temperaturen: Eiskaltes, das auf der Zunge explodiert, allesamt Zutaten seines Vexierspiels mit unseren Sinnen. Und um die zu betrügen, braucht er auch zum Beispiel Stickstoff, flüssigen Stickstoff.

"Die große Revolution, die sich heute in der Haute Cuisine abspielt, basiert auf der interdisziplinären Organisation der Küche. Unsere Arbeit ist eine interdisziplinäre Tätigkeit geworden. In der Architektur, im Design, in der Mode ist dieser Austausch ganz normal. Überall wird heute mit Experten aus anderen Bereichen kommuniziert, nur in der Küche nicht. Es ist nicht normal gewesen, im Team zu arbeiten, doch langsam wird dies in der Spitzenküche normal. Darin liegt die wahre Umwälzung, die große Revolution, die unsere Küchen heute erfasst."