Koch-Mehrin will Ende der Großen Koalition im EU-Parlament

Silvana Koch-Mehrin im Gespräch mit Ernst Rommeney und Ulrich Ziegler · 11.07.2009
Die Liberalen wollen die Große Koalition aus Konservativen und Sozialdemokraten im Europäischen Parlament "sprengen". Deshalb habe Graham Watson als Chef der europäischen Liberalen auch auf eine Kandidatur für die Parlamentspräsidentschaft verzichtet, erklärte Silvana Koch-Mehrin, die Vorsitzende der Liberalen im EU-Parlament.
Deutschlandradio Kultur: Was haben die Liberalen im Europaparlament gegen José Manuel Barroso?

Silvana Koch-Mehrin: Überhaupt gar nichts! Wir sind nur der Meinung, dass wir keine Eile damit haben, eine Kommission, die voll arbeitsfähig ist, erneut zu bestätigen. Wir halten es für richtiger, dass wir uns als Parlament erst mal in Ruhe konstituieren, die Verhältnisse hier im Parlament austarieren und uns dann nach der Sommerpause an die Frage der nächsten EU-Kommission begeben.

Deutschlandradio Kultur: Das entspricht aber nicht dem Terminplan des Europäischen Rates. Der hätte das gern vor der Sommerpause noch über die Bühne gebracht.

Silvana Koch-Mehrin: Na ja, ganz war es nicht so. Denn der Rat hatte ja nur gesagt, dass er vor hat, Barroso zu nominieren. Er hat ihn also weder zu dem Zeitpunkt formal nominiert gehabt, als die Diskussionen hier im Parlament stattfanden, noch hat der Rat irgendeine Präferenz für ein Datum geäußert. Es gab das zwar immer wieder als Gerücht. Und ich glaube, dem Kandidaten selbst, wie jedem Kandidaten bei jeder Wahl, ist es natürlich am liebsten, dass so eine Wahl schnellstmöglich vorbei geht und man weiß, woran man ist.

Aber das ist etwas anders gekommen, weil wir im Parlament - gerade auch als Liberale - gesagt haben, wir wollen doch sicherstellen, dass wir, wenn wir unsere Stimmen einem Kandidaten aus der bürgerlichen, konservativen Fraktion geben, dass wir dann auch das Ganze im Rahmen einer langfristig angelegten Zusammenarbeit tun und nicht nur Stimmen abgeben und der Rest erfolgt dann, wie üblich, in der Großen Koalition hier im Parlament. Das wollten wir eben auch nicht.

Deutschlandradio Kultur: Aber wenn ich Sie richtig verstehe, wollen Sie ihn wählen? Ihre Abgeordnetenkollegen in der liberalen Fraktion sind da aber wohl nicht einer Meinung. Denn manche sagen, er sei farblos. Und andere Kollegen wiederum vermissen ein Programm.

Silvana Koch-Mehrin: Wir haben ihn in der vergangenen Legislaturperiode gewählt, sind mit seiner Bilanz im Großen und Ganzen mit all den Punkten, wo wir sagen, da hätten wir uns mehr gewünscht, dennoch einigermaßen zufrieden. Was wir jetzt machen als Liberale, ist, dass wir unsere Forderungen an ihn auf Papier bringen. Das haben wir in der Fraktionssitzung diese Woche gerade diskutiert, haben einen Entwurf gemacht, den wir in der konstituierenden Sitzungswoche in Straßburg beschließen.

Das schicken wir ihm und dann laden wir ihn zu uns ein und sagen: Barroso, bitte erklär uns doch mal, in welcher Form du unsere Forderungen erfüllen wirst? - Und wir erwarten dann eben auch von ihm, dass er ein Programm für das macht, was er in den nächsten fünf Jahren machen würde, wäre er wieder Kommissionspräsident. Das halten wir für erforderlich für eine Führungspersönlichkeit. Das ist etwas, woran wir ihn dann messen wollen. Das haben wir im Übrigen 2004 auch so gemacht.

Deutschlandradio Kultur: Wie sehen denn liberale Forderungen aus? Können Sie vielleicht mal zwei, drei Kernpunkte nennen?

Silvana Koch-Mehrin: Uns ist vor allem wichtig, dass das, was Europa als zentrales Thema derzeit bewegt und auch von allen Bürgerinnen und Bürgern als das wesentliche Anliegen formuliert wird - wie geht Europa eigentlich gemeinsam mit der Wirtschafts- und Finanzkrise um? -, von der Kommission sehr viel stärker aufgegriffen wird.

Wir haben da als Liberale in den letzten Jahren vermisst, dass da nicht viele Initiativen kamen. Wir haben z. B. schon lange eine gemeinsame Bankenaufsicht für Europa gefordert und auch ein gemeinsames Vorgehen, wenn es z.B. darum geht, Staatsbeihilfen noch stärker zu ahnden oder bzw. auf den Prüfstand zu nehmen. Da wollen wir von ihm einen klaren Aktionsplan. Was hat er vor? Wie will er da als Kommission maßgeblich was erreichen?

Das zweite Thema Bürgerechte, ein Herzensanliegen von uns Liberalen. Wir sehen jeden Tag im Mittelmeer z.B. ganz fürchterliche Ereignisse, wenn Flüchtlinge versuchen nach Europa reinzukommen. Wir müssen als Europa gemeinsam eine Antwort darauf finden, wie wir mit Migration umgehen, wie wir mit dem Thema Einwanderung nach Europa umgehen und wie wir auch mit der Frage "Garantie der Bürgerrechte" in allen Ländern Europas umgehen. Da erwarten wir eben auch von ihm mehr Initiative, als es in den letzten Jahren der Fall war.

Deutschlandradio Kultur: Aber sind Sie da nicht unfair? Denn er ist ja kein klassischer Wahlsieger, der sich mit einem Wahlprogramm den Wählern gestellt hat und nun eigentlich in der neuen Regierung nur noch das umsetzen muss, was er versprochen hat. Er ist ein oberster politischer Beamter. Er hat ja eigentlich gar kein Programm.

Silvana Koch-Mehrin: Die EU-Kommission ist ja die Institution in Europa, die das Initiativrecht hat. Nur die EU-Kommission kann bestimmte politische Vorhaben auf den Weg bringen oder kann eben dafür sorgen, dass bestimmte politische Vorhaben nun gerade nicht auf den Weg kommen. Das ist anders, als beispielsweise ein Ministerialbeamter oder ein Beamter der Stadtverwaltung Möglichkeiten hätte. Die EU-Kommission ist diejenige, die den Startschuss für Gesetzgebung gibt. Deswegen ist es ein berechtigtes Anliegen zu sagen: Was ist als EU-Kommissionspräsident der Plan? Was sind die Vorhaben, die man für die nächsten fünf Jahre hat? Das unterscheidet sich schon sehr stark von einem anderen Bürokratiejob.

Deutschlandradio Kultur: Es geht dann eigentlich um zwei Dinge: Einerseits geht’s um die Person Barroso, aber es geht vor allen Dingen - wenn ich das richtig verstanden habe - auch um Kompetenzfragen. Was kann das EU-Parlament tatsächlich einbringen? Und wann ist der Punkt erreicht, wo sie das Gefühl haben, sie werden von außen überstimmt?

Silvana Koch-Mehrin: Natürlich kommt es auch immer wieder auf ein Kräftemessen zwischen den EU-Institutionen an. Wobei wir als Parlament das Interesse daran haben, dass es eine starke und selbstbewusste EU-Kommission gibt. Denn sie ist ja in ihrer obersten Aufgabe Hüterin der gemeinsamen Verträge. Und es gab auch immer wieder Kommissionspräsidenten, die das exzellent genutzt haben und die Regierungschefs immer wieder damit auch oft unter Druck gesetzt haben, nämlich indem es sehr ehrgeizige Projekte für einzelne politische Bereiche gab, Europa weiter zu bringen. Das ist eben etwas, was wir von der EU-Kommission zum Teil in den letzten Jahren vermisst haben. Deswegen wollen wir sehen, an welchen Stellen sich dort etwas ändern wird. Wo können wir dann auf mehr Führung setzen?

Deutschlandradio Kultur: Wenn sich am kommenden Dienstag das neue EU-Parlament in Straßburg konstituiert, wird auch ein Parlamentspräsident gewählt werden. Da wollte ja auch ein Liberaler antreten, Graham Watson. Nun wird es wohl Jerzy Buzek werden, der Pole aus der konservativen Fraktion. Warum hat Watson zurückgezogen? Warum haben Sie sich nicht getraut ihn aufzustellen?

Silvana Koch-Mehrin: Wir haben ja hier die Situation, dass es seit Jahren eine Große Koalition gibt, die die Dinge unter sich ausmacht. Unser Anliegen war, ist und bleibt es, diese Große Koalition zu sprengen. Es ist auf europäischer Ebene natürlich alles ein bisschen anders als auf nationaler, weil es hier ja eben keine Regierung gibt, die sich politisch bildet. Deswegen muss man dann unterscheiden zwischen der inhaltlichen Zusammenarbeit, wo wir als Liberale ganz klar eine Mehrheit bilden wollen mit den europäischen Volksparteien und den Konservativen, also eine bürgerliche Mehrheit. Die gibt es dann in dieser Konstellation auch. Aber dann gibt es das, was die so genannten "technischen Abmachungen" angeht.

Da haben wir gesagt, wir wollen da in dieses Abkommen zwischen den großen Fraktionen rein. Ein solches globales Abkommen geht natürlich immer nur, wenn man nicht nur Dinge verlangt, sondern auch etwas gibt. Das, was dann eben der wesentliche Punkt der anderen Fraktionen war, um die Liberalen in ein solches Abkommen mit reinzunehmen, war zu sagen: Dann sollte die Präsidentschaftskandidatur zurückgezogen werden. Ich finde es auch einen wirklich guten und tapferen Schritt von Graham Watson, der unglaublich viel Energie da reingesteckt hat, eine sehr politische Kampagne für die Präsidentschaft des Europaparlaments zu machen, dass er gesagt hat, er sieht, die Vorteile für die Fraktion sind größer, wenn er seine Kandidatur zurückzieht. Das hat er dann gemacht.

Deutschlandradio Kultur: Das heißt aber auch in der Konsequenz, dass die Konservativen und Sozialdemokraten auch künftig die wichtigen Posten unter sich aufteilen werden und die Liberalen sozusagen am Katzentisch sitzen.

Silvana Koch-Mehrin: Ja eben gerade nicht. Was den Parlamentspräsidenten angeht, ist es richtig. Das ist der Fall, dass da die beiden Großen nach wie vor das untereinander auskaspern. Aber es ist gelungen, sie zumindest herauszufordern. Was die anderen Aktivitäten und wichtigen Funktionen im Europaparlament angeht, ist es eben durch dieses Abkommen zu dritt dann gelungen, dass man als Liberale dabei ist und eben stärker mitmischen kann, als es vorher der Fall gewesen wäre.

Deutschlandradio Kultur: Verstehe ich Sie richtig? Sie wollen mit den britischen Torys künftig zusammen Politik machen?

Silvana Koch-Mehrin: Selbstverständlich. Wir hatten schon in der vergangenen Legislaturperiode sehr häufig - gerade, wenn es um wirtschaftspolitische Fragen geht - dieselbe Haltung. Das kann man an Abstimmungsauswertungen auch sehen. Die Torys waren bis vor Kurzem auch Mitglied der EVP-Fraktion, wo CDU/CSU-Mitglied sind. Natürlich teile ich nicht die Auffassung der Torys z. B. zum Lissabon-Vertrag. Oder auch die ganz klare Ablehnung von Europa als einem möglichen Bundesstaat teile ich so nicht. Aber in wirtschaftspolitischer Hinsicht kann man durchaus sagen, dass sie auch Verfechter der sozialen Marktwirtschaft sind. Da finden wir uns dann doch immer wieder.

Deutschlandradio Kultur: Aber bei europäischen Fragen beispielsweise sind Ihnen die Grünen näher.

Silvana Koch-Mehrin: Also, bei Fragen Bürgerrechte betreffend haben wir gesehen, dass wir da mit den Grünen durchaus sehr ähnliche Abstimmungsverhalten haben. Was Umweltpolitik, was Wirtschaftspolitik, was Sozialpolitik, was Energiepolitik angeht, sind wir ganz weit auseinander.

Deutschlandradio Kultur: Aber nehmen wir noch mal das Beispiel, das Sie selbst eingeführt haben, nämlich die gemeinsame Finanzaufsicht der EU, die ja verbessert werden soll. Sie haben dagegen Vorbehalte. Wie wollen Sie das bei britischen Liberalen durchsetzen?

Silvana Koch-Mehrin: Was wir sehen, ist natürlich, dass Briten - egal welcher Parteizugehörigkeit - ein besonderes Augenmerk auf die Frage Finanzaufsicht in Europa richten. Und zwar geht es da natürlich um die Interessen der City of London, also dem Ort, wo die meisten Finanztransaktionen stattfinden in Europa. Das hat insofern weniger mit den Torys oder Nicht-Torys zu tun, sondern eher mit der Frage: Brite oder Nicht-Brite.

Insofern ist es wichtig, dass man eben umso stärker darauf pocht als EU-Kommission, als Mehrheit des Europäischen Parlaments, und damit den Rat und eben auch gerade die britische Regierung so unter Druck setzen kann, dass man sagt: Wir brauchen eine gemeinsame europäische Finanzaufsicht. Wir brauchen gemeinsame Regeln für den Finanzmarkt. Das heißt ja nicht, dass wir mehr Regeln haben, sondern europäische statt einer Vielzahl völlig unterschiedlicher nationaler Regeln.

Deutschlandradio Kultur: Aber das ist schon interessant, dass Sie als Liberale, die Sie eigentlich für Deregulierung sind, jetzt sagen, die Finanzmarktregeln sind Ihnen noch nicht streng genug.

Silvana Koch-Mehrin: Ich sage nicht, dass wir zu wenig haben oder zu wenig strenge. Wir haben nur die falschen. Deswegen, glaube ich, kann es sogar sein, dass es im Endeffekt weniger Regeln gibt, aber welche, die das Problem auch tatsächlich dann treffen und auch das Problem eben eingrenzen können. Es geht ja nicht um einen Wettbewerb, wer hat die größte Regeldichte, da würden wir als Liberale sofort aussteigen und sagen, "Unsinn". Sondern wir brauchen welche, die eben auch den Kern der Dinge treffen.

Wenn sich z. B. die Sächsische Landesbank in Dublin mit irgendwelchen Immobiliengeschäften verzockt und im Anschluss dann die Deutsche Finanzaufsicht sagt, na ja, das ist Irland, da können wir nichts machen, dann ist das offensichtlich falsch, weil wir natürlich in einer Branche, die längst international tätig ist, uns nicht 27 unterschiedliche nationale Regelungen leisten sollten, sondern eine gemeinsame europäische.

Deutschlandradio Kultur: Wie müsste die dann aussehen aus liberaler Sicht?

Silvana Koch-Mehrin: Zum Beispiel sollte sie bei der Europäischen Zentralbank angesiedelt sein. Es sollte gemeinsame Risikoevaluierung geben z. B. von verschiedenen Produkten. Man sollte ein gemeinsames Vorgehen bei Ratingagenturen vereinbaren. Man könnte auch darüber reden, dass es eben verbindliche Regeln europaweit gibt, was beispielsweise die Anforderung an Finanzinstitute angeht, bestimmte Sicherheiten zu halten. Alles das liegt an Vorschlägen auf dem Tisch. Da haben wir als liberale Fraktion in der vergangenen Legislaturperiode auch sehr viel dran gearbeitet. Aber da kommt es eben auf die EU-Kommission an, dass die das in Vorschläge für Gesetzgebung ummünzt, die dann eben auch in den Rat gehen. Und dafür brauchen wir die Zusage von Barroso, dass er das macht.

Deutschlandradio Kultur: Bewegt sich denn da im Moment überhaupt was, wenn man sich auch anschaut, wie unterschiedlich Vorstellungen von Franzosen, Deutschen, Briten auf Ratsebene sind? Möglicherweise laufen Ihre Vorschläge einfach ins Leere.

Silvana Koch-Mehrin: Europa ist natürlich immer eine ziemlich komplexe Angelegenheit, wenn man 27 nationale Befindlichkeiten hat. Wir haben über 150 Parteien hier im Parlament, sieben Fraktionen. Aber ich glaube, das Problem ist ja bei allen offensichtlich, dass es eines gibt. Und manche Länder sind noch viel stärker als Deutschland betroffen. Dass da eine europäische Notwendigkeit für gemeinsames Handeln ist, liegt auch für die allermeisten auf der Hand. Europa ist also hier nicht das Problem, sondern Europa wäre die Lösung. Ich denke, das sieht die große Mehrheit des Parlaments auch nach wie vor so.

Deutschlandradio Kultur: Sie waren ja bislang Haushälterin im EU-Parlament. Wenn wir jetzt darauf schauen, dass in der Finanzkrise und in der Rezession die Mitgliedsländer Schulden über Schulden machen, können wir den Europäischen Stabilitätspakt nunmehr vergessen?

Silvana Koch-Mehrin: Es ist schon bedrohlich, wie zum Teil leichtfertig mit Steuerzahlergeld umgegangen wird und bestimmte Branchen wahnsinnig subventioniert werden, z. B. durch die Abwrackprämie, wo irre Milliardenbeträge reingehen, und gleichzeitig in Deutschland die Bundesregierung sagt, für Bildung sind die notwendigen finanziellen Möglichkeiten nicht vorhanden. Also, da ist schon vieles - gerade in Deutschland - Wahlkampfausgabe.
Wichtig ist in dem Zusammenhang, dass das, was wir in Europa eigentlich schon als klaren Rechtsrahmen haben, sowohl die Kontrolle von Staatsbeihilfen, als eben auch den Stabilitätspakt, der ja in sich vorsieht, dass - wenn Ausnahmesituationen sind - man auch befristet mehr Schulden machen darf, wenn man garantiert, dass man die zurückzahlt, nicht irgendwie hintan gestellt wird, sondern umso wichtiger als Garant dessen, dass man zu einer soliden Finanzpolitik zurückkommen muss, auch entsprechend ernst genommen wird.

Deutschlandradio Kultur: Würden Sie ein Zeitfenster festlegen, wo Sie sagen, bis dahin müssen die Konvergenzkriterien eingehalten werden?

Silvana Koch-Mehrin: Ich glaube, jetzt kann keiner voraussagen, wie lange eine Finanz- und Wirtschaftskrise andauert und welche Maßnahmen notwendig sind. Ich glaube, dass die allermeisten Regierungen da auf Sicht fahren und immer wieder neu schauen müssen, wie die Wirtschaftsdaten sind. Viele Prognosen, die von Wirtschaftsexperten, von Wissenschaftlern gemacht wurden, haben sich als völlig falsch erwiesen. Insofern kann man da jetzt keine seriöse Antwort drauf geben. Aber wichtig ist, dass man eben ein klares Bekenntnis abgibt, dass der Schuldenabbau bis hin zu einem Schuldenverbot - und das zeigt ja der Haushalt der Europäischen Union selbst, die EU darf keine Schulden aufnehmen in ihrem Etat - nach wie vor politisches Ziel bleibt und nicht immer weiter nach hinten verschoben wird. Aber zum jetzigen Zeitpunkt kann man nicht sagen, ob das in einem halben Jahr, in einem Jahr oder in zwei Jahren der Fall sein kann, dass man eine Politik ändert.

Deutschlandradio Kultur: Gerade in der Krise wird ja gesagt, die EU oder die Euroländer brauchen nicht nur eine gemeinsame Währung, sie brauchen auch als Gegenstück eine gemeinsame Wirtschaftspolitik. Die Franzosen wünschen sich eine so genannte "Wirtschaftsregierung". Ist das eine gute Idee?

Silvana Koch-Mehrin: Davon halte ich überhaupt nichts, weil sich die Unterschiedlichkeit in den Ländern ja auch in der Wirtschaftskrise gerade zeigt. Schon z. B. zu überlegen, Osteuropa, Westeuropa, verschiedene Hilfsleistungen für unterschiedliche Teile Europas sind Unsinn, weil Osteuropa so auch nicht über einen Kamm zu scheren ist. Die Situation in Polen und in Slowenien ist komplett anders als die in Ungarn und in Estland. So geht es weiter in Europa. Deswegen ist es richtig, dass man sich als Wirtschaftsminister gegenseitig informiert und auch immer wieder davon absieht, dass man in protektionistische Tendenzen verfällt. Aber eine gemeinsame Wirtschaftsregierung halte ich für den falschen Weg.

Deutschlandradio Kultur: Lieber nationale Alleingänge, wenn es beispielsweise - Sie haben das auch genannt - um die Automobilindustrie geht. Abwrackprämie kann machen, wer es will. Und irgendwann wird es vielleicht allen helfen.

Silvana Koch-Mehrin: Gerade nicht, weil wir ja eben, wie gesagt, ein europäisches Staatsbeihilfenrecht schon haben. Das heißt, wenn es eine Abwrackprämie gibt, die ausschließlich für deutsche Autos nur gelten würde, dann würde das gegen europäisches Staatsbeihilfenrecht verstoßen. Oder z. B., was ja in Frankreich der Versuch war, dass der Präsident Sarkozy gesagt hat, er gibt spezielle Hilfen an die französische Automobilindustrie und im Gegenzug muss die garantieren, dass in Frankreich kein Arbeitsplatz abgebaut wird. Solche Dinge verstoßen schon jetzt gegen gemeinsames europäisches Recht. Das muss auch weiterhin so bleiben, dass da nicht einzelne Regierungen sagen, wir geben Geld hier nur vor Ort aus, weil das eben ein Protektionismus ist, der auch völlig gegen die Realität steht. Opel z. B. ist ja kein rein deutsches Unternehmen, sondern hat Standorte mit Produktion in sechs verschiedenen europäischen Ländern. Dass das alles miteinander zusammenhängt, liegt auf der Hand, wird aber in der politischen Diskussion eben zu oft vergessen.

Deutschlandradio Kultur: Aber beim Stahl hat man doch was anders gemacht. Da hat man einen gemeinsamen Kapazitätsabbau gemacht. Das wäre doch in der Automobilindustrie genauso wichtig.

Silvana Koch-Mehrin: Die Frage, wie viele Autos man in Europa braucht, kann Politik nicht entscheiden. Das entscheiden die Verbraucher. Die kaufen die Autos oder kaufen sie eben nicht. Deswegen halte ich die Abwrackprämie auch für falsch, weil ja ein Anreiz gesetzt wird, Autos zu kaufen, statt ein Sofa oder einen Kühlschrank oder einen Flachbildschirm. Das sind staatliche Einflussnahmen, die irgendwie einen kurzen Strohfeuereffekt haben. Aber was passiert dann eigentlich, wenn es die Abwrackprämie nicht mehr gibt? Dann hören ja schlagartig die Autokäufe wieder auf. Und dann ist die Zeit nach der Abwrackprämie eigentlich nur noch der Kater, nämlich das zurückzahlen zu müssen. Ich meine, solche staatlichen Interventionen zeigen, dass es falsch ist, wenn man als Politik versucht zu steuern, was gekauft werden soll und was nicht.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben uns ja nun gerade die Positionen Ihrer liberalen Europapolitik skizziert. Lassen sich diese denn mit dem neuen Lissabon-Vertrag - so er denn kommt - besser durchsetzen oder nicht?

Silvana Koch-Mehrin: Ich denke schon, denn das Parlament wird gestärkt durch den Lissabon-Vertrag. Auch das Urteil, was wir gerade in Deutschland vorm Bundesverfassungsgericht hatten über die Gesetze, die wir in Deutschland haben müssen, um den Lissabon-Vertrag bei uns zur Geltung zu bringen, ermöglicht eine stärkere demokratische Beteiligung. Das halte ich für den ganz wichtigen Schritt für Europa, dass man sehr viel mehr demokratische Rückkoppelung hat und das Ganze weniger eine Angelegenheit von wenigen Personen hinter verschlossenen Türen ist, sondern eine, die wirklich Richtung Europa der Bürger irgendwann dann gehen kann.

Deutschlandradio Kultur: Aber die Gefahr, dass Europa von nationalen Parlamenten möglicherweise ausgebremst werden könnte, sehen Sie nicht?

Silvana Koch-Mehrin: Die Möglichkeit, durch nationale Interessen auszubremsen, gibt es ja jetzt schon zu Hauf. Und es wird meist eben von Regierungen gemacht und dann unter völliger Abwesenheit von Öffentlichkeit, weil die Regierungsvertreter allermeistens immer noch hinter verschlossenen Türen tagen und, wenn die Regierungschefs zusammenkommen, sowieso. Deswegen halte ich es für sinnvoller, dass - wenn man politische Prozesse hat, wenn man in einem Gesetzgebungsverfahren ist - dann die nationalen Parlamente, die ja alle demokratisch gewählt sind, stark einbezogen werden und sagen: Moment, hier läuft aber was völlig gegen unseren Willen, hier wollen wir doch noch mal mitmischen. Das halte ich für eine gute Sache.

Deutschlandradio Kultur: Wie muss man sich das technisch vorstellen? Jede Entscheidung, die dann im Europäischen Rat, im Parlament getroffen wird, kommt zurück in den Bundestag, in den Bundesrat und jedes Mal wird das vorgelegt, dann wird neu diskutiert und dann geht es wieder zurück nach Straßburg oder Brüssel?

Silvana Koch-Mehrin: Wie sich jetzt der Urteilsspruch des Bundesverfassungsgerichts genau auf die Praxis im Bundestag auswirken wird, ist eine ganz spannende Sache. Auch die Bundestagsabgeordneten selbst sagen, es könnte alles von einer Revolution des bisherigen Arbeitens bis hin zu wesentlichen Änderungen der Verfahren bedeuten. Also, da wird sich schon einiges tun. Es wird aber nicht so sein, dass sich - wenn man hier zum Schluss der Verhandlungen gekommen ist - erst dann der Bundestag einschaltet und dann sozusagen alles wieder noch mal zurück auf null, zurück auf Start bringt, sondern dass man sich eben, wenn die Verhandlungen hier beginnen, auch im Bundestag damit befasst.

Im Übrigen gibt es auch schon Beispiele, wo das funktioniert, z. B. in Dänemark oder auch Finnland, wo sich die dortigen Parlamente immer dann mit einem EU-Vorschlag befassen, wenn er eben als Vorschlag auf den Tisch kommt, und nicht erst dann, wenn es beschlossen ist.

Deutschlandradio Kultur: Das finde ich ja interessant, dass Sie als FDP-Frau im Grunde den Berliner Vorschlag der CSU unterstützen, während die CSU-Kollegen in ihrem Parlament den heftig kritisiert haben. Das ist ja ein doller Reigen, den Sie da vorführen.

Silvana Koch-Mehrin: Also, ich habe nicht so einen rechten Überblick, was die CSU derzeit gerade vorschlägt. Das ändert sich ja auch so ein bisschen alle zwei Stunden. Aber dass man den Lissabon-Vertrag herauszögern will oder dass man irgendwie Veto einlegen will, das ist ja nicht der Urteilsspruch. Das halte ich auch eher für ein bisschen simplen Populismus.

Es geht ja drum, dass - das ist im Urteilsspruch auch klar ausgeführt - die Institutionen, die demokratisch gewählt sind, wie es im Lissabon-Vertrag vorgesehen ist, eine größere Mitsprachemöglichkeit haben. Das muss eben nachgebessert werden in den Gesetzen, die der Bundestag bisher dazu gemacht hatte. Da sehe ich jetzt, ehrlich gesagt, nicht die Haltung, wir blockieren alles, was aus Europa kommt, sondern wir mischen uns frühzeitig ein. Und das kann ich nur begrüßen. Das ist übrigens etwas, was die FDP seit Jahrzehnten auch fordert und immer wieder in der eigenen Zusammenarbeit - Europaabgeordnete/ Bundestagsabgeordnete - auch schon so macht.

Deutschlandradio Kultur: Frau Koch-Mehrin, wir haben noch eine Personalfrage. Sie waren bisher Mitglied im Haushaltsausschuss im Europäischen Parlament. Was machen Sie denn künftig dort in Straßburg und Brüssel?

Silvana Koch-Mehrin: Also, ich würde mich gerne verstärkt einem Thema widmen, was mit Gesetzgebung auch zu tun hat. Da interessiert mich vor allem der Bereich: Wie geht man eigentlich mit Medien um, neuen Medien? Da hat sich das Europäische Parlament ja auch schon in den letzten Jahren stark damit befasst. Zum Beispiel Internet und öffentlich-rechtlicher Rundfunk, solche Dinge, Medienpolitik im Großen und Ganzen wäre etwas, wo ich mich stark interessieren würde, daran zu arbeiten.

Deutschlandradio Kultur: Und Vizepräsidentin wollen Sie auch werden?

Silvana Koch-Mehrin: Ich bin Kandidatin meiner Fraktion für die Vizepräsidentschaft im Europäischen Parlament. Das ist richtig. Und da gibt es unterschiedliche Zuständigkeitsbereiche. Darüber wird dann nach der Wahl geredet, was dann möglich ist, wer was macht. Das ist natürlich eine ausgesprochen verantwortungsvolle Aufgabe. Mein Ziel ist, dass man Europa und Europapolitik stark wahrnimmt. Ich halte es für eine Bringschuld der Europapolitiker, immer wieder zu sagen, warum das, was wir hier machen, auch wirklich Volksvertretung ist und warum es im Interesse der Bürgerinnen und Bürger ist, dass es dieses Europaparlament gibt.

Deutschlandradio Kultur: Wenn man in Ihrem Lebenslauf nachschaut - und Sie sprechen ja von bürgerlicher Zusammenarbeit -, stößt man auf einen Begriff, der für manche etwas befremdend ist. Da steht als Familienstand: "nicht ledig". Wir stellen uns die Frage: Was wollen Sie uns damit sagen?

Silvana Koch-Mehrin: Also, es ist ja doch einigermaßen noch so eine Lücke. In Belgien gibt es beispielsweise den Status "eingetragene Partnerschaft" ab einer bestimmten Anzahl von Jahren, die man zusammen lebt, quasi automatisch. Und in Deutschland gibt’s als Angaben bislang ja nur: verheiratet, verwitwet oder ledig. Wenn man aber eine Lebensgemeinschaft hat mit gemeinsamen Kindern und das über Jahre hinweg, dann trifft keiner dieser drei Begriffe zu. Ich fand "nicht ledig" als den Begriff, der den Zustand - in Anführungszeichen - am besten beschreibt.

Deutschlandradio Kultur: Frau Koch-Mehrin, wir danken für das Gespräch.

Silvana Koch-Mehrin: Dankeschön.