Knigges Traum von einer besseren Welt
Adolph Freiherr Knigge gilt heutzutage als Anstandspapst. Doch sein Buch von 1791 „Benjamin Noldmanns Geschichte der Aufklärung in Abessynien“ wirft ein ganz anderes Bild auf Knigge. Der Roman ist ein politisches Pamphlet, eine Abrechnung mit dem Absolutismus und zugleich der muntere Entwurf einer besseren Welt.
Aus dem verschlafenen Goslar stammt er, der Advokatus Noldmann, Sohn eines Bierbauers und darum kaum zu Höherem berufen. Wir schreiben die Jahre 1780ff. Das Ancien Regime lastet schwer auf den Schultern seiner Untertanen, zu denen auch Josephus Wurmbrand zählt, verkrachter Theologiestudent und Vetter Noldmanns. Der eine zieht los und macht sein Glück als Minister am Hofe des Negus in Abessynien, heute genannt Äthiopien. Der andere folgt ihm nach, wird Prinzenerzieher und Chronist eines denkwürdigen Aufstiegs, Falls und Wiederaufstiegs des einzigen christlichen Landes in Nordafrika.
„Indem ich nun eine Skizze von der Geschichte des Königreichs Abessynien entwerfe, wünsche ich, daß die Leser bemerken mögen, daß dieß zugleich die Geschichte des Despotismus überhaupt, in seiner Entstehung, seinem Wachsthume und seinen Folgen ist, die ihm früh oder spät das Grab bereiten.“
Reine Fiktion, versteht sich. Adolph Freiherr von Knigge erfand beide Abenteurer, um nicht selbst mit dem Kopf dafür einzustehen, was in den Köpfen von Schwarm- und Freigeistern vor sich ging, mit denen er sympathisierte. Denn die Verhältnisse in Deutschland waren nicht für Applaus gemacht:
„Die kleinen, von arbeitsamen Menschen leeren, hölzernen Residenzen wimmeln von müssigen, liederlichen, hungrigen, bunten Soldaten und von hirnlosen, niederträchtigen, bettelarmen Hofschranzen, die sich unter einander hassen, verleumden, verfolgen, und, durch die schändlichste Schmeicheley und durch die Bereitwilligkeit sich zu den entehrendsten Diensten brauchen zu lassen, den schwachen Fürsten noch täglich mehr verderben. Feile, menschenscheue Schriftsteller und erkaufte Zeitungsschreiber posaunen dann Handlungen von diesen durchlauchtigen Sündern aus, um welche gelobt zu werden ein Privatmann sich schämen würde.“
Starke Worte, doch die Polemik täuscht Satire bloß vor. In Wahrheit ist der Roman ein politisches Pamphlet, eine Abrechnung mit dem Absolutismus, zugleich der muntere Entwurf einer besseren Welt. Im fernen Äthiopien vollzieht Despoten mit offenem Ohr für die Nöte des Volkes umgemodelt, stirbt unerwartet früh. Sein ältester Sohn, von Noldmann auf eine Bildungsreise durch deutsche Lande geleitet, bringt nur falsche Anregungen mit und erweist sich als afrikanischer Imitator europäischer Hof-Dekadenz. Unter seiner Regentschaft stürzt das Land in Armut und Unfrieden, es kommt zur Revolution, als deren Folge der zweite Sohn des Negus – ein bescheidener Intellektueller – die Regierungsgeschäfte übernimmt. Übergangsweise, wie er betont. Allenfalls sechs Jahre lang will er abessynienischer Wahlkönig sein und bietet seinem Volk eine Verfassung an, die das Herz der deutschen Aufklärer höher schlagen lässt. Sie enthält zum Beispiel das Mehrheitswahlrecht:
„Da nicht zu erwarten steht, daß Tausende leicht einerley Meinung seyn werden; so muß, bey einer solchen Gesetzgebung, die Mehrheit der Stimmen entscheiden. Die weiseste Meinung ist nun aber freylich nicht immer die Meinung des größern Haufens; allein jeder kann sich für den Weisesten halten; und wer darf dann entscheiden? Es bleibt daher kein anderes Mittel übrig, als die Meinung der mehrsten für die beste Meinung zu halten; und am Ende muß es ja auch von dem größten Haufen abhängen, unweise Gesetze zu geben, wenn er nun ein Mahl keine andre haben will, weil der größere Haufen der stärkste Theil ist, und das Recht des Stärkern in der ganzen Natur die Oberhand hat.“
Ab hier wird das exhumierte Buch von 1791 wirklich interessant. Es zeigt, welch widersprüchliche Entwicklungskeime im schwärmerischen Aufklärungsdenken angelegt waren: liberale wie freiheitsfeindliche. Ist das Wahlkönigtum fast wörtlich aus der amerikanischen Verfassung übernommen – dort spricht man vom Präsidenten –, entwirft Knigge im harschen moralisch-pädagogischen Regiment des idealen Staates eine Dystopie des rundum verwalteten Menschen, dem nur nach Prüfung seiner Talente erlaubt sein soll, den eingeborenen Status als Stadt- oder Landbewohner zu verändern, der bei der Auswanderung die Hälfte seines Vermögens abgeben muss und dessen individuellen Rechte stets unter dem Vorbehalt der Gemeinnützigkeit stehen. Alles Land bleibt Staatseigentum und wird von einer weisen Behörde nach Effizienzkriterien verteilt – so weise und effizient, wie es der Sozialismus 150 Jahre später in der Realität vermochte. Halb belustigt, halb schaudernd liest man, welche Weltbeglückungsträume der Freiherr Knigge zwei Jahre nach dem Sturm auf die Bastille niederlegte und denkt sich insgeheim, wie gefährlich politische Pamphlete doch sein können: Am Ende macht sie noch jemand wahr. Dann trägt eine unschuldige Bevölkerung das Risiko für nicht zu Ende gedachte publizistische Phantasien. Der Chronist Noldmann überschlägt sich jedenfalls vor Begeisterung:
„O! erlaube mir, daß ich diesen Entwurf in Deutschland drucken lasse, damit meine Landsleute gewahr werden, daß noch ein Platz auf dem Erdboden ist, wo die gesunde Vernunft nicht ganz durch die conventionellen, erkünstelten Begriffe ist verdrängt worden!“
Vernunft macht manchen Wandel durch im Lauf der Zeit, und weil es immer gut ist, die Vernunft der Vorväter gegen unsre heutige zu stellen, lassen wir uns gern von Freiherr Knigge aufklären. Über das Stadium, politische Gebrauchsanweisungen wörtlich zu nehmen, sind wir zum Glück weit hinaus.
Adolph Freiherr Knigge: Benjamin Noldmanns Geschichte der Aufklärung in Abessynien
Mit einem äthiopisch-deutschen Brückenschlag versehen von Asfa-Wossen Asserate
Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2006
„Indem ich nun eine Skizze von der Geschichte des Königreichs Abessynien entwerfe, wünsche ich, daß die Leser bemerken mögen, daß dieß zugleich die Geschichte des Despotismus überhaupt, in seiner Entstehung, seinem Wachsthume und seinen Folgen ist, die ihm früh oder spät das Grab bereiten.“
Reine Fiktion, versteht sich. Adolph Freiherr von Knigge erfand beide Abenteurer, um nicht selbst mit dem Kopf dafür einzustehen, was in den Köpfen von Schwarm- und Freigeistern vor sich ging, mit denen er sympathisierte. Denn die Verhältnisse in Deutschland waren nicht für Applaus gemacht:
„Die kleinen, von arbeitsamen Menschen leeren, hölzernen Residenzen wimmeln von müssigen, liederlichen, hungrigen, bunten Soldaten und von hirnlosen, niederträchtigen, bettelarmen Hofschranzen, die sich unter einander hassen, verleumden, verfolgen, und, durch die schändlichste Schmeicheley und durch die Bereitwilligkeit sich zu den entehrendsten Diensten brauchen zu lassen, den schwachen Fürsten noch täglich mehr verderben. Feile, menschenscheue Schriftsteller und erkaufte Zeitungsschreiber posaunen dann Handlungen von diesen durchlauchtigen Sündern aus, um welche gelobt zu werden ein Privatmann sich schämen würde.“
Starke Worte, doch die Polemik täuscht Satire bloß vor. In Wahrheit ist der Roman ein politisches Pamphlet, eine Abrechnung mit dem Absolutismus, zugleich der muntere Entwurf einer besseren Welt. Im fernen Äthiopien vollzieht Despoten mit offenem Ohr für die Nöte des Volkes umgemodelt, stirbt unerwartet früh. Sein ältester Sohn, von Noldmann auf eine Bildungsreise durch deutsche Lande geleitet, bringt nur falsche Anregungen mit und erweist sich als afrikanischer Imitator europäischer Hof-Dekadenz. Unter seiner Regentschaft stürzt das Land in Armut und Unfrieden, es kommt zur Revolution, als deren Folge der zweite Sohn des Negus – ein bescheidener Intellektueller – die Regierungsgeschäfte übernimmt. Übergangsweise, wie er betont. Allenfalls sechs Jahre lang will er abessynienischer Wahlkönig sein und bietet seinem Volk eine Verfassung an, die das Herz der deutschen Aufklärer höher schlagen lässt. Sie enthält zum Beispiel das Mehrheitswahlrecht:
„Da nicht zu erwarten steht, daß Tausende leicht einerley Meinung seyn werden; so muß, bey einer solchen Gesetzgebung, die Mehrheit der Stimmen entscheiden. Die weiseste Meinung ist nun aber freylich nicht immer die Meinung des größern Haufens; allein jeder kann sich für den Weisesten halten; und wer darf dann entscheiden? Es bleibt daher kein anderes Mittel übrig, als die Meinung der mehrsten für die beste Meinung zu halten; und am Ende muß es ja auch von dem größten Haufen abhängen, unweise Gesetze zu geben, wenn er nun ein Mahl keine andre haben will, weil der größere Haufen der stärkste Theil ist, und das Recht des Stärkern in der ganzen Natur die Oberhand hat.“
Ab hier wird das exhumierte Buch von 1791 wirklich interessant. Es zeigt, welch widersprüchliche Entwicklungskeime im schwärmerischen Aufklärungsdenken angelegt waren: liberale wie freiheitsfeindliche. Ist das Wahlkönigtum fast wörtlich aus der amerikanischen Verfassung übernommen – dort spricht man vom Präsidenten –, entwirft Knigge im harschen moralisch-pädagogischen Regiment des idealen Staates eine Dystopie des rundum verwalteten Menschen, dem nur nach Prüfung seiner Talente erlaubt sein soll, den eingeborenen Status als Stadt- oder Landbewohner zu verändern, der bei der Auswanderung die Hälfte seines Vermögens abgeben muss und dessen individuellen Rechte stets unter dem Vorbehalt der Gemeinnützigkeit stehen. Alles Land bleibt Staatseigentum und wird von einer weisen Behörde nach Effizienzkriterien verteilt – so weise und effizient, wie es der Sozialismus 150 Jahre später in der Realität vermochte. Halb belustigt, halb schaudernd liest man, welche Weltbeglückungsträume der Freiherr Knigge zwei Jahre nach dem Sturm auf die Bastille niederlegte und denkt sich insgeheim, wie gefährlich politische Pamphlete doch sein können: Am Ende macht sie noch jemand wahr. Dann trägt eine unschuldige Bevölkerung das Risiko für nicht zu Ende gedachte publizistische Phantasien. Der Chronist Noldmann überschlägt sich jedenfalls vor Begeisterung:
„O! erlaube mir, daß ich diesen Entwurf in Deutschland drucken lasse, damit meine Landsleute gewahr werden, daß noch ein Platz auf dem Erdboden ist, wo die gesunde Vernunft nicht ganz durch die conventionellen, erkünstelten Begriffe ist verdrängt worden!“
Vernunft macht manchen Wandel durch im Lauf der Zeit, und weil es immer gut ist, die Vernunft der Vorväter gegen unsre heutige zu stellen, lassen wir uns gern von Freiherr Knigge aufklären. Über das Stadium, politische Gebrauchsanweisungen wörtlich zu nehmen, sind wir zum Glück weit hinaus.
Adolph Freiherr Knigge: Benjamin Noldmanns Geschichte der Aufklärung in Abessynien
Mit einem äthiopisch-deutschen Brückenschlag versehen von Asfa-Wossen Asserate
Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2006