Kluft zwischen Bürgern und Politik

Das verlorene Kapital "Vertrauen"

Merkel steht lächelnd im roten Kostüm am Rednerpult.
Bundeskanzlerin Angela Merkel steht unter Druck: Sie will das Vertrauen der Bürger zurückgewinnen © dpa / Sophia Kembowski
Stefan Gosepath im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 08.09.2016
Die Diskussion über den Vertrauensverlust vieler Bürger hat nach den Wahlerfolgen der AfD Konjunktur. Wie kann die Politik reagieren? Politiker müssten ihre Ziele und Entscheidungen besser erklären, meint der Philosoph Stefan Gosepath.
Wie steht es um das Verhältnis zwischen Bürgern und Politik? Können die etablierten Parteien die Kluft überwinden und das "Vertrauen der Menschen zurück gewinnen", wie es Bundeskanzlerin Merkel in ihrer Rede bei der Generaldebatte gefordert hatte?
Der Berliner Philosoph Stefan Gosepath analysierte im Deutschlandradio Kultur mögliche Ursachen für die Skepsis vieler Bürger gegenüber politischen Entscheidungen. Man müsse deutlicher hervorheben, warum man Vertrauen haben sollte:
"Die repräsentative Demokratie sollte eigentlich so angelegt sein, dass sie die Interessen und Überzeugungen der Bevölkerung filtern. Nicht jedes Interesse, was ich in einem bestimmten Moment haben, ist dann mein wahres, mein aufgeklärtes Interesse. Wir brauchen Systeme – auch in der Politik, die uns helfen herauszukriegen, was wir eigentlich wirklich wollen. Dazu brauchen wir Expertise, dazu brauchen wir Beistand, dazu brauchen wir aber vor allem gemeinsames Überlegen."

Woher kommt der Widerstand gegen die Flüchtlingspolitik?

Wenn man eine Politik gegen die erklärten Interessen bestimmter Bevölkerungsteile betreibe, müsse man ihnen bestimmte Ziele politischer Arbeit besser erklären, fordert Gosepath:
"Ich glaube, das kommt noch zu kurz, insbesondere bei den Flüchtlingsströmen gibt es in bestimmten Teilen der Bevölkerung nach wie vor großen Widerstand dagegen. Und man muss sich jetzt überlegen, woher dieser Widerstand kommt."
Prof. Dr. Stefan Gosepath
Stephan Gosepath, Professor für Praktische Philosophie an der Freien Universität Berlin © Deutschlandradio / Manfred Hilling

Der Stoff der Politik ist Konflikt, nicht Konsens

Der Ort für den Austausch von Überlegungen sei das Parlament. Dabei gehe es nicht darum, die vermuteten Interessen der Bevölkerung 1: 1 in Politik umzusetzen - wie populistische Strömungen häufig meinten. Es gehe vielmehr um Aufklärungsarbeit:
"Das Volk soll repräsentiert werden, aber das Volk hat nicht einen Willen. Schön wäre es, dann wäre es einfach. Leute haben unterschiedliche Meinungen. Und auch nach Reflexion, nach Überlegungen bleiben die bei unterschiedlichen Überzeugungen. Das heißt: Der Stoff der Politik ist eigentlich Konflikt, nicht Konsens.
Und es geht jetzt gerade darum herauszukriegen: Mit welchen Mitteln könne wir die unterschiedlichen politischen Überzeugungen doch in eine gemeinsame Politik übersetzen?"

Das Interview im Wortlaut:
von Billerbeck:Es soll jetzt um den Abstand gehen, die Distanz, die viele Bürger immer häufiger spüren und vermessen, die Distanz, die die Politik tatsächlich oder angeblich zu den Sorgen der Bürger hat. Gerade beim Thema Flüchtlinge empfinden die einen Angela Merkels Politik als richtig, die anderen sagen, da muss sich was ändern, so geht es nicht weiter. Die Kanzlerin selbst hat auf die Kritik ja in der gestrigen Generaldebatte im Bundestag der Opposition und auch von den Bürgern zumindest indirekt selbstkritisch geantwortet, als sie sagte, jeder müsse sich nach dem Wahlerfolg der AfD am Sonntag in Mecklenburg-Vorpommern auch an die eigene Nase fassen.
O-Ton Angela Merkel: Wenn wir untereinander nur den kleinen Vorteil suchen, um zum Beispiel noch irgendwie mit einem blauen Auge über einen Wahlsonntag zu kommen, gewinnen nur die, die auf Parolen und scheinbar einfache Antworten setzen. Ich bin ganz sicher, wenn wir uns das verkneifen und bei der Wahrheit bleiben, dann gewinnen wir und wir gewinnen so das Wichtigste zurück, was wir brauchen: Vertrauen der Menschen.
von Billerbeck: Angela Merkel gestern im Deutschen Bundestag. Wie aber steht es denn nun um das Verhältnis Bürger-Politik und Bürger-Politiker? Lässt sich die Distanz überwinden und das Vertrauen zurückgewinnen, wie es die Kanzlerin eben gesagt hat?
Darüber will ich jetzt mit Stefan Gosepath sprechen, er ist Professor für praktische Philosophie, also der richtige Mann für das Thema, an der FU, an der Freien Universität Berlin, und jetzt im Studio, schönen guten Morgen!
Stefan Gosepath: Wunderschönen guten Morgen!

Was die repräsentative Demokratie leisten sollte

von Billerbeck: Eine ja selbstkritische und kritische Kanzlerin, dennoch: Inwieweit spiegelt sich denn im AfD-Wahlerfolg wie dem in Mecklenburg-Vorpommern die Kluft zwischen Politik und Bürgern?
Gosepath: Wir wollen ja in unserer repräsentativen Demokratie eigentlich zweierlei. Wir wollen ein politisches System, das angemessen auf die Interessen und Überzeugungen der Bürgerinnen und Bürger reagiert. Und gleichzeitig wollen wir aber auch Bürgerinnen und Bürger, die Zutrauen und Vertrauen, wie die Kanzlerin gesagt hat, in das politische System haben, dass eben ihre Interessen und Überzeugungen angemessen repräsentiert werden.
Und jetzt haben wir offenbar mit dem Erstarken von populistischen Strömungen gerade im rechten Spektrum das Phänomen, dass es offenbar viele Leute gibt, die dieses Vertrauen nicht mehr haben. Und die Frage ist jetzt, woran das liegt. Ich glaube, zum einen muss man – das ist jetzt so ein bisschen die Aufgabe von so jemandem wie mir – noch einmal versuchen klarzumachen, warum man Vertrauen haben sollte.
Eine repräsentative Demokratie haben wir ja deshalb als System gewählt, nicht nur weil wir alle zu faul sind, jeden Tag im Bundestag zu sitzen, sondern weil wir auch andere Sachen zu tun, weil wir auch andere Interessen haben. Also nicht nur aus praktischen Gründen, sondern auch weil die repräsentative Demokratie eigentlich so angelegt sein soll, dass sie die Interessen und Überzeugungen der Bevölkerung filtern.
Nicht jedes Interesse, was ich in dem Moment habe, ist dann mein wahres, mein aufgeklärtes Interesse. Bei ganz vielen meiner Kaufentscheidungen oder sonstigen Entscheidungen lerne ich doch, dass sich das, was ich am Anfang als Interesse formuliert habe, nachher gar nicht als mein wahres Interesse herausgestellt hat. Und wir brauchen eigentlich Systeme auch in der Politik, die uns helfen herauszukriegen, was wir eigentlich wirklich wollen. Dazu brauchen wir Expertise, dazu brauchen wir Beistand, das haben Abgeordnete in der Regel, dazu brauchen wir aber vor allem gemeinsames Überlegen.

Das Parlament als Ort der Debatten

Und das Parlament ist genau der Ort, in dem die Abgeordneten in unserem Auftrag darüber gemeinsam debattieren, also überlegen, Argumente austauschen, was denn nun die beste Politik ist. Es geht nicht darum, wie populistische Strömungen häufig meinen, eins zu eins die Interessen, die vermuteten Interessen der Bevölkerung in Politik umzusetzen. Sondern es geht darum, aufzuklären darüber, was denn nun die Interessen sind.
Und dann kommt ein zweiter Aspekt: Das Volk soll repräsentiert werden, aber das Volk hat nicht einen Willen. Schön wär’s, dann wär’s einfach. Sondern wir lernen, Leute haben unterschiedliche Meinungen. Und auch nach Reflexion, auch nach Überlegung bleiben die bei unterschiedlichen Überzeugungen.
Das heißt, der Stoff der Politik ist eigentlich Konflikt, nicht Konsens. Und es geht jetzt gerade darum, herauszukriegen, mit welchen Mitteln können wir die unterschiedlichen politischen Überzeugungen doch in eine gemeinsame Politik übersetzen. Und auch da haben populistische Strömungen etwas Leichtfertiges, wenn sie suggerieren, sie hätten die richtige Meinung und die müsste man nur eins zu eins umsetzen.

Enttäuschung der Bürger über Fremdbestimmung

von Billerbeck: Da gab es mal ein wunderbares Wahlplakat in Berlin vor Jahren von einer Partei, da stand tatsächlich drüber: Wir haben das Patentrezept. Das hat mir besonders gut gefallen. Aber Sie haben ja eben angesprochen, dass es quasi kurzfristige und langfristige oder tatsächliche Interessen der Wähler gibt. Wieso gelingt es dann aber Populisten so sehr, diese scheinbar kurzfristigen Interessen zu bedienen und den Bürger dazu zu bringen, dass er die langfristigen vielleicht aus dem Blick verliert?
Gosepath: Ja, das ist eben noch mal pathetisch gesprochen die Aufklärungsarbeit, die wir zu leisten haben. Klar sind Leute enttäuscht, die ein bestimmtes Interesse formulieren, wenn ihnen dann gesagt wird, das ist aber nicht dein eigentliches Interesse. Dann fühlen die sich fremdbestimmt. Und das heißt, diese Kritik – das ist nicht dein eigenes Interesse –, nehmen Sie das beim Beispiel eines Kindes, dem man dann sagt, nee, aber das willst du doch nicht wirklich, das fühlt sich dann nicht ernstgenommen. Bei Kindern ist das natürlich noch was anders, das Wahlvolk ist aufgeklärt, ist erwachsen und selbstständig.
Aber hier kommt es trotzdem darauf an, dass man, wenn man eine Politik betreibt gegen die erklärten Interessen bestimmter Bevölkerungsteile, dass man diesen Bevölkerungsteilen dann erklärt, warum man meint, dass es doch auch in ihrem Interesse ist, auf diese Art und Weise zu verfahren. Und ich glaube, das kommt noch zu kurz, insbesondere natürlich bei den Flüchtlingsströmen.
Nach wie vor gibt es in bestimmten Teilen der Bevölkerung großen Widerstand dagegen und man muss sich jetzt überlegen, woher kommt dieser Widerstand und wie kann man die davon überzeugen und mit ins Boot holen, dass es doch richtig ist, hier nicht nur auf die humanitäre Katastrophe zu antworten, sondern insgesamt in unserem langfristigen Interesse ist, die Migranten, die jetzt hier sind, richtig zu integrieren.

Brauchen wir einen "Populismus der Mitte"?

von Billerbeck: Der Politikwissenschaftler Tilman Mayer von der Uni Bonn hat gestern in den ARD-"Tagesthemen" gesagt, wir brauchen sozusagen einen Populismus der Mitte. Können Sie damit was anfangen?
Gosepath: Verstehen tu ich es, aber ich bin nicht seiner Meinung. Der Populismus, das Wort ist jetzt in aller Munde. Und es kommt natürlich darauf an, was man darunter meint. Aber Populismus verstehe ich eigentlich als genau das Gegenteil von dem, was ich versucht habe zu erklären, wofür eine repräsentative Demokratie steht. Das ist die Auffassung, dass es einfache Wahrheiten in der Politik gibt, dass man selber recht hat und dass andere unrecht haben.
Und gerade in der Politik ist es ein ganz wichtiger Punkt zu sehen: Ich meine, ich bin im Recht, aber sie meinen auch, sie sind im Recht. Und jetzt müssen wir uns darüber auseinandersetzen. Ich kann nicht einfach nur, weil ich der Auffassung bin, dass ich in der Wahrheit bin, das auch dann so versuchen durchzusetzen, mit allen Mitteln.

"Die Minderheit muss lernen, die Mehrheit zu akzeptieren"

von Billerbeck: Bloß, der berühmte Kompromiss ist ja in solchen Feldern sehr schwierig zu erreichen, wenn die einen schwarz wollen und die anderen weiß.
Gosepath: Ja, nun liegt die Wahrheit auch nicht immer in der Mitte, sondern manchmal ist eben der Kompromiss nicht das Richtige, sondern man muss eine Weile eine bestimmte Politik durchführen. Dafür haben wir Mehrheiten und die Minderheit muss dann eben auch lernen, die Mehrheit zu akzeptieren, vorausgesetzt sie weiß, dass sie auch eine Chance hat, mal in die Mehrheit zu kommen und dass Politik in der Regel reversibel bleibt, das heißt die Mehrheit jetzt nicht tyrannisiert.
Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Aber jetzt populistisch – ich glaube, das war auch der Punkt, den Frau Merkel machen würde –, jetzt populistisch auf rechtspopulistische Sachen zu reagieren, ist das falsche Mittel. Weil es suggeriert, dass Politik einfach ist. Aber Politik ist nicht einfach. Und es ist nicht einfach zu verstehen. Und es ist nicht einfach zu akzeptieren. Es ist ein hartes Geschäft, auch für uns Bürgerinnen und Bürger.
von Billerbeck: Das wird schwierig, die Distanz zu überwinden, das habe ich aus diesem Gespräch gelernt.
! !Gosepath:!! Ja.
von Billerbeck: Stefan Gosepath war das, Professor für praktische Philosophie an der FU Berlin. Danke fürs Kommen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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