Klischee as Klischee can

Rezensentin: Pieke Biermann · 04.05.2005
Eines vernebelten Januartages treffen vier Finnen in Venedig ein. Auftrag: Mit anderen internationalen Experten die Stadt vor dem Versinken zu retten. Auftraggeber: UN, UNESCO und EU.
Venedig ist "Weltkulturerbe", Steinwerdung des Abendlands, aber eben auf Wasser gebaut. Die Steine bröckeln und modern.

Was auf den folgenden 360 Seiten passiert, ist ein fröhlicher clash of civilizations, heruntergebrochen auf "nationale Mentalitäten im vereinten Europa". Hier die rationalen Finnen mit ihren Kaffeetassen, die anständig große Henkel haben, und ihrer Lebenshaltung, "immer auf das Schlimmste eingestellt" zu sein - da die bürokratisch-chaotischen Italiener mit ihren Cafénäpfchen, die man nicht mal richtig anfassen kann, Schwadroneure, die im Zweifelsfall feiern.

Klischee as Klischee can? Natürlich, und mit Absicht. Hannu Raittila hat Typisierungen aufeinander gehetzt, denn sein Roman ist pure commedia dell’arte in Prosaform. Die vier Finnen, zu denen sich eine fünfte gesellt, sind angelegt wie commedia-Figuren. Einer der beiden Erzähler, der Ingenieur Marrasjärvi, ist der gutmütige Narr, ein Forrest Gump der Strömungsmessungen, der einzige, der den Auftrag bierernst nimmt.

Dozent Heikila ist eine Schwatzbacke, eine geballte Ladung Bildungsgut namens Abendland; die Snell, die traurige Fleischwerdung modern-chauvinistischer Kulturbürokratie; der Tagebuchschreiber Saraspää mit Herzschrittmacher, "blauen Pillen" und geheimnisvollen "peinlichen Bedürfnissen" ein Aschenbach der Jahrtausendwende, der dem "Tod in Venedig" immer näher rückt; Tuuli schließlich die ideelle junge Gesamteuropäerin: patent, polyglott, sexy.

Es geht, nebenbei, um die Invasion in Jugoslawien, Drogen, norditalienische Separatisten, zwei merkwürdige Amis und zwei undurchsichtige venezianische Jünglinge mit Booten, die Reinigungskosten für Taubenkot an öffentlichen Gebäuden, Lösungsvorschläge zur Arbeitslosigkeit in Deutschland. Ein solches grandioses Projekt lässt sich nur mit den Mitteln der Groteske und der Komik erzählen.

Hannu Raittila beherrscht sie ebenso grandios. Natürlich muss das Ganze auch buchstäblich in Karneval münden - den venezianischen. Das befürchtete Hochwasser kommt nicht. Aber der Canale Grande verwandelt sich in eine schlängelnde Fußgängerzone - er friert zu. Und man weiß ja, was passiert, wenn Esel aufs Glatteis gehen...

Der 1956 geborene Hannu Raittila gehört inzwischen zur ersten Garde der modernen finnischen Literatur. Er war zunächst vor allem mit Kurzgeschichten bekannt geworden, "Canal Grande" ist der zweite von bisher drei Romanen. Raittila schreibt auch Stückefür Radio und Fernsehen und Zeitungsbeiträge. Für "Canal Grande" bekam er 2001 unter anderem den renommierten Finlandia-Preis. Es ist sein erstes Buch, das auf Deutsch erscheint.

Hannu Raittila: "Canal Grande"
Aus dem Finnischen von Stefan Moster
Knaus-Verlag, München 2005
365 Seiten