Bergsteigen und Klimawandel

Das Risiko klettert mit

23:39 Minuten
Hubschrauber nach Unglück an der Marmolata in den Dolomiten
Hubschrauber nach dem Unglück an der Marmolata in den Dolomiten: Elf Menschen kamen ums Leben. © dpa / picture alliance / Andrea Carrubba
Von Ernst Vogt · 18.12.2022
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Der Klimawandel macht das Bergsteigen gefährlicher und begünstigte 2022 wohl Ereignisse mit Todesfolgen – wie an der Marmolata, dem höchsten Gipfel der Dolomiten. Hitzewellen und Trockenheit sorgten für einen Rekordschwund der Alpengletscher.
Das Bergsteigerjahr 2022 stand im Zeichen von Ereignissen, die wohl durch den Klimawandel und die Erderwärmung begünstigt wurden. Die Marmolata, genannt die „Königin der Dolomiten“, wurde zum Symbol für ein plötzlich hereinbrechendes Unglück, das kaum vorhersehbar war.
Am 3. Juli, einem Sonntag mit bestem Bergwetter, brach am 3343 Meter hohen Berg ein großes Stück des Gletschers ab und überrollte alle, die sich weiter unten befanden. Die traurige Bilanz: elf Tote und zahlreiche Verletzte.
Als Erster erfuhr Luigi Felicetti von der Bergrettung Fassatal vom Unglück. Als der erfahrene Bergretter wenige Minuten später per Hubschrauber am Unglücksort ankam, bot sich ihm ein Bild der Verwüstung: Überall lagen riesige Eis- und Felsblöcke herum.
Sofort begann er mit der Suche nach den Opfern. Tote wurden geborgen, Verletzte erstversorgt und in die umliegenden Kliniken geflogen.

Messners Erklärung für das Unglück

Für die Bergretter war der Einsatz gefährlich. Und dennoch: Nicht nur am Unglückstag, sondern noch weitere sechs Wochen lang suchten Felicetti und seine Kollegen nach Verunglückten und Vermissten, unterstützt von Lawinenhunden.

Als einer der Ersten hatte der Südtiroler Extrembergsteiger Reinhold Messner, ein guter Kenner der Marmolata, eine Erklärung für das Unglück:

Da ist in den letzten Jahren immer wieder auf der Zunge des Gletschers ein See entstanden. Und heuer im Sommer ist dieser See wieder entstanden und dann ist offensichtlich – das hat niemand gesehen – durch ein Loch dieses Wasser unter die Zunge geflossen und von allen Seiten bei diesen heißen Julitagen ist das Wasser gekommen. Und alles unter den Gletscher hinein.

Extrembergsteiger Reinhold Messner

Gletscherforscher Christoph Mayer von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften vermutet, "dass Schmelzwasser in diesen Gletscher eingedrungen ist und den Kontakt mit dem Boden verringert hat – und dadurch ist das Ganze abgestürzt.“

Experten erwarten künftig ähnliche Ereignisse

Die Experten sind sich einig. Solche Ereignisse werden in Zukunft häufiger auftreten. Die österreichische Gletscherforscherin Andrea Fischer nennt die Gründe:
"Durch den Klimawandel heute sind mittlerweile die meisten Flächen an diesen Gletschern schneefrei. Das ist kein gutes Zeichen, weil sich hier kein neues Eis bilden kann und der ganze Gletscher der Schmelze ausgesetzt ist."
Auch scheinbar kompakte Felswände können zur Gefahr werden in Zeiten des Klimawandels, hat Reinhold Messner beobachtet:
„Es brechen mehr und mehr große Stücke aus den Wänden heraus. An der Civetta habe ich die Stelle gesehen, wo ein Turm abgebrochen ist, der 400 Meter hoch war, 50 Meter tief und 100 Meter breit. Und dieser Turm ist bis ins Tal gekracht. Darunter ein Wanderweg. Es war niemand drauf und es ist nix passiert.“

Höhere Risiken durch den Klimawandel

Auf die Frage, ob das Bergsteigen in Zeiten des Klimawandels höhere Risiken mit sich bringt, antwortet der Südtiroler Extrembergsteiger:

Eindeutig. Es ist gefährlicher geworden und wird noch gefährlicher werden. Es gibt mehr Steinschlag. Das ist nicht aufzuhalten.

Extrembergsteiger Reinhold Messner

Trotzdem ist der Ansturm auf die Berge ungebrochen, auch auf die höchsten Gipfel der Erde wie Mount Everest, K2 und Manaslu.
Bernd Kullmann, der 1978 in Rekordzeit vom Südsattel des Mount Everest auf den 8848 Meter hohen Gipfel gestiegen war, bringt es auf den Punkt:
„Damals hat ausschließlich die sportliche Qualifikation gezählt – und heute ist es eher die Dicke der Brieftasche.“

Bis zu 200.000 Euro für eine Expedition

Ein Alpinist bezahlt heutzutage zwischen 35.000 und 200.000 Euro für die Expedition am Mount Everest. Der höchste Berg der Erde ist zum Prestigeobjekt geworden, nicht zuletzt für Manager und Führungskräfte in der Wirtschaft.
„Gesellschaftlich zählt halt ein Achttausender, allen voran der Everest, schon etwas", sagt Bernd Kullmann. "Wenn man das im Freundeskreis beiläufig fallen lässt, dann bringt das schon Respekt. Gerade bei Menschen aus dem Management wird es so interpretiert: Das ist ein harter Hund. Der kann sich durchsetzen. Der nimmt sich hohe Ziele vor und erreicht die auch.“

Auf der Suche nach dem geringsten Widerstand

Dabei gehen die Bergsteiger in der Regel den Weg des geringsten Widerstandes, stellt Reinhold Messner fest:
„Es ist interessant, dass alle Bergsteiger dorthin gehen, wo die Aufstiege präpariert sind. Heuer im Frühjahr der Everest, im Sommer K2 und jetzt der Manaslu. Niemand ist zum Kangchendzönga gegangen, wo keine Piste war.“
Extrembergsteiger Reinhold Messner
Reinhold Messner hat als Erster alle 14 Achttausender bestiegen.© dpa / picture alliance / Kirsten Nijhof
Der Südtiroler hat mit seinen alpinistischen Leistungen Maßstäbe gesetzt. Als Erster hat er alle 14 Achttausender bestiegen. Seitdem hat sich einiges verändert, allerdings nicht zum Guten, meint der Himalaya-Pionier:

Was noch bedenklich ist, ist der Einsatz von Hubschraubern. Der Hubschrauber wird nicht nur genutzt, um ins Basislager zu kommen, billiger als mit Trägern. Aber ich erfahre die Einheimischen nicht in ihrem Habitat, ich erkenne nicht, in welcher Kultur die heute leben, für mich gehört das wesentlich zum Bergsteigen dazu.

Extrembergsteiger Reinhold Messner

Göttler scheiterte zweimal am Mount Everest

Der deutsche Profibergsteiger David Göttler kennt das Gefühl, kurz vor dem Gipfel umdrehen zu müssen. Zweimal – 2019 und 2021 – war er am Mount Everest gescheitert. Sein Ziel: den höchsten Punkt der Erde ohne Flaschensauerstoff zu erreichen.
Bei seinem ersten Versuch war am Südsattel eine 100 Meter lange Menschenschlange vor ihm – alles Bergsteiger mit Sauerstoffflaschen, die darauf warteten, dass es an einer Engstelle weiterging. David Göttler, der ohne Sauerstoffmaske unterwegs war, hätte beim Anstehen auf knapp 8000 Metern Erfrierungen riskiert und brach die Expedition ab.
Bergsteiger David Göttler
Profibergsteiger David Göttler brauchte drei Versuche, um den Mount Everest zu besteigen.© David Göttler
In diesem Jahr ging seine Taktik auf. Er wartete, bis die Aspiranten der kommerziellen Expeditionen wieder zurück im Basislager waren und nutzte das späte Schönwetterfenster, um sich seinen Traum zu erfüllen.
„Das Schöne am Everest ist ein sehr definierter Gipfel", sagt Göttler. "Das macht die Sache leichter. Und am Everest sind nach buddhistischer Tradition sehr viele Gebetsfahnen. Und dann schaut man ringsum und alles ist niedriger, alles ist unter einem, und nicht nur ein bisschen.“
Der Everest war der sechste Achttausender-Gipfelerfolg von David Göttler – und für ihn ein ganz besonderer. Vom Südgipfel bis zum höchsten Punkt und wieder zurück zum Hillary Step, dieser entscheidenden Schlüsselstelle auf der Normalroute, ist er keinem anderen Menschen begegnet.

Mount Everest als "Gipfel der Eitelkeiten"

Die Frühjahrssaison 2022 geht als sehr erfolgreiche in die Annalen der Everest-Geschichte ein, bilanziert Billi Bierling, die Leiterin der Himalayan Database in Kathmandu. Sie erfasst die Namen und Daten aller Achttausender-Besteigungen in Nepal: „Es standen 663 Menschen auf dem Gipfel des höchsten Berges der Welt, davon vier ohne Flaschensauerstoff, darunter auch der deutsche Alpinist David Göttler.“
Für David Göttler ist mit dem Mount Everest ein Traum in Erfüllung gegangen. Er spricht von einem Meilenstein in seiner Bergsteigerkarriere, wobei ihm sein Stil besonders wichtig ist:
„Ohne Sauerstoff ist für mich die einzige Möglichkeit, die für mich als fair means anzusehen ist, diesen Berg zu besteigen. Und wenn ich das eliminiere, das ist, wie wenn ich die Tour de France mit einem E-Bike fahre.“
Am Mount Everest sind nur wenige Spitzenbergsteiger wie David Göttler zu finden. Nicht zu Unrecht gilt er als „Gipfel der Eitelkeiten“. Gemeint sind dabei das Prestige und der Ruhm, den sich viele Besteiger erhoffen, wenn sie sich den Erfolg am Everest ans Revers heften können. Und es funktioniert, berichtet Billi Bierling:

Die Leute gehen als Friseur, als Arzt, als Automechaniker auf den Everest und sie kommen wieder runter und sind Autoren, Motivationsspeaker und vielleicht sogar Bergführer. Der Everest verändert das Leben der Leute.

Billi Bierling, Leiterin der Himalayan Database in Kathmandu

Diskrepanz zwischen Können und Wollen

Nirgendwo scheint jedoch die Diskrepanz zwischen Können und Wollen größer zu sein als am höchsten Berg der Welt. David Göttler hat in diesem Jahr auch übermotivierte Anfänger gesehen.
„Zum ersten Mal den Berg sehen, das erste Mal Steigeisen anhaben, nicht wissen, was eine Gletscherspalte ist – das ist ihr erster und letzter Berg. Die besteigen ihn und kommen dort leider auch ums Leben.“
Todesfälle hat es in diesem Jahr auch am Manaslu gegeben, dem achthöchsten Berg der Erde. Lawinen haben sogar das Basislager getroffen und dreißig Zelte verschüttet. Der deutsche Höhenbergsteiger Ralf Dujmovits erlebte auf dem Weg zu Lager 4 das dramatische Geschehen:
"Die Lawine hat mehrere Bergsteiger mitgerissen, haben wir live gesehen. Einer ist ums Leben gekommen. Viele Sherpas waren schwer verletzt. Wir haben uns dann den ganzen Nachmittag und Abend um die verletzten Bergsteiger kümmern müssen.“

Drastische Klimawandel-Folgen am Manaslu

Am Manaslu sind die Folgen des Klimawandels besonders einschneidend. Für Bergsteiger ist dieser Achttausender schwieriger geworden – und gefährlicher:
„Die Gletscherverhältnisse haben sich sehr stark verändert. Der Manaslu ist nicht mehr der leichte Achttausender, wie er in der Werbung angekündigt wird. Ich habe Leute gesehen, die haben zu wenig technisches Können, die haben da einfach nix verloren.“
Manaslu in Nepal
Einschneidende Veränderungen durch den Klimawandel gibt es am Manaslu.© dpa / picture alliance / Aryan Dhimal
Der Glaube, dass er Berg durch Stahlseile, die von unten bis oben verlegt werden, an Schrecken verliert, hat sich als Trugschluss erwiesen.
Billi Bierling: „Die Herbstsaison hat gezeigt, dass trotz der vielen Fixseile das Risiko mitklettert. Das Risiko ist immer da und gerade an einem Berg wie dem Manaslu, der sehr lawinengefährlich ist.“
Die Bilanz: drei Tote, darunter die amerikanische Extremskifahrerin Hilaree Nelson sowie ein Sherpa.

Mehrere Tote auch in Patagonien

Ebenfalls drei Tote gab es nach Auskunft von Profikletterer Thomas Huber in Patagonien. Dort stehen die zu Stein gewordenen Träume von Extrembergsteigern, der Fitz Roy und der Cerro Torre. Lange galten sie als unbezwingbar. Wer sich in die steilen und überhängenden Felswände wagt, benötigt hohes Kletterkönnen und starke Nerven. Und muss auch mit den Folgen des Klimawandels rechnen, wie die argentinisch-italienische Seilschaft Tomás Aguiló und Corrado Pesce.
Sie haben unter der Nordwand ein kurzes Biwak gemacht, wo es vermeintlich sicher war", erzählt Thomas Huber. "In der Nacht ist der Eispilz kollabiert und eine massive Lawine hat die Kletterer begraben.“
Zufällig sahen Thomas Huber und seine Kameraden ein SOS-Lichtsignal am Cerro Torre, der als einer der schwierigsten Gipfel der Erde gilt. Der Berchtesgadener Kletterer gab seinen ursprünglichen Plan auf und eilte zum Cerro Torre. Er hatte bei der 40-stündigen Rettungsaktion des verunglückten Argentiniers die Fäden in der Hand.
Eine Rettung von Corrado Pesce war bei den sich verschlechternden Witterungsverhältnissen nicht mehr möglich. Doch wenigstens einen der Kletterer aus der Wand geholt und in Sicherheit gebracht zu haben, wiegt für Thomas Huber mehr als jeder Gipfelerfolg.

"Ein absoluter Grenzgang"

Alexander Huber, der jüngere der Huberbuam, verdiente sich in diesem Jahr Meriten in Europa. Ihm gelang eine Erstbegehung an der Punta Giradili, einem Felsgipfel auf Sardinien. Das Besondere daran: stark überhängend und Kletterschwierigkeiten bis zum zehnten Grad:
„Aus meiner Sicht der größte Überhang, den ich kenne, der frei geklettert wurde. Für mich absolut ein Grenzgang.“
Der Extremkletterer aus dem Berchtesgadener Land war unter anderem damit bekannt geworden, dass er in den Dolomiten ein 40 Meter überhängendes Felsdach als Erster geschafft hatte. Diese Meisterleistung in den Drei Zinnen hat er mit seiner diesjährigen Erstbegehung überboten.
Alexander Huber musste erfinderisch sein, um dieses 80 Meter auskragende Felsdach zu bezwingen: Um verschnaufen zu können, fand er in 200 Meter Höhe einen Standplatz, der einem Akrobaten zur Ehre gereicht hätte. Ein Fuß rastete auf einem Sinterzapfen, mit dem Rücken lehnte er an einem ähnlichen Felsstück.

Klimawandel beim Bergsteigen zu spüren

Extremkletterer wie Thomas Huber erfahren die Folgen des Klimawandels schon seit Jahren hautnah auf ihren Expeditionen und bei ihren Touren:
„Der Permafrost löst sich auf, es gibt Bergstürze, es wird wärmer in der Höhe. Jetzt ist es so eklatant, dass teilweise Berge gesperrt werden, wie heuer das Matterhorn und der Mont Blanc – für Gäste, die hinaufklettern wollen. Es geht leider nicht mehr linear, sondern exponentiell, dieser Prozess der Erwärmung.“
Auch Reinhold Messner plädiert dafür, den CO2-Ausstoß deutlich zu verringern, um der Natur eine Chance zu geben. Und um letztlich die Werte zu erhalten, die der Mensch am Berg sucht:

Die Stille, die Entschleunigung, die Erhabenheit. Der Berg ist eines der letzten archaischen Elemente auf dieser Erde und er gibt die Möglichkeit zu begreifen, dass wir Mängelwesen sind.

Reinhold Messner

So sollte es nach Ansicht des Südtiroler Extrembergsteigers im Gebirge nur äußerste Vorsicht und Konzentration geben, denn der Mensch habe nicht die Fähigkeit, auf alle Gefahren zu achten:
„Ich hoffe, dass die Menschen Respekt entwickeln gegenüber dem Berg und dass sie verstehen, dass das nichts mit heldenhaft oder Sport oder Rekorden zu tun hat, sondern ausschließlich mit der Anerkennung, dass der Berg unendlich viel größer ist als wir.“
 

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