Klima- und Impfskepsis

Mit der "Moral-Pille" zu mehr Gemeinsinn?

Ein Kommentar von Arnd Pollmann · 15.08.2021
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Die Hormonforschung legt nahe: Pro-soziales Verhalten lässt sich medikamentös manipulieren. Könnte so ein "moralisches Doping" auch Impf- und Klimaskeptikern helfen? Arnd Pollmann hat Einwände.
Hitze, Waldbrände, Überschwemmungen: Die Klimakatastrophe rückt bedrohlich näher und drängt zu sofortigem Handeln. Auch eine zweite globale Krise ist noch nicht abgewendet. Das Impftempo lahmt. Es wird beklagt, Impfunwilligen mangele es an Moral und Gemeinsinn.
Die Zeit wird knapp, die Welt muss gerettet werden, und auch in der akademischen Ethik sind sich aktuell viele einig: Sowohl für Klimaskeptiker:innen als auch für Impfskeptiker:innen soll es rasch ungemütlich werden – damit nicht allen Menschen für immer ungemütlich wird.

Ethische Problemzonen

Wie aber hievt man diejenigen an Bord, die bislang unmotiviert erscheinen, ihren eigenen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten? Appelle an die Vernunft werden kaum ausreichen – das ist wahr.
Benötigen wir deshalb Lockerungen und Bratwürste oder nicht doch eher negative, empfindliche Anreize? Freiheitseinbußen statt jener vermeintlichen Freiheit zum egoistischen Trittbrettfahren. Hohe Steuern, Kostenbeteiligung und vor allem: gesetzlich sanktionierte Pflichten. Darf die Ethik angesichts des Weltuntergangs und der ökologischen sowie virologischen Pflichtvergessenheit vieler Menschen gar über raffiniertere Rezepte nachdenken?
Arnd Pollmann schaut freundlich in die Kamera.
Arnd Pollmann, Professor für Ethik und Sozialphilosophie an der Alice Salomon Hochschule Berlin© privat
Vor einigen Jahren ist dazu eine pharmakologische Diskussion entbrannt. Es sind Philosoph:innen wie Peter Singer, Agata Sagan, Ingmar Persson und Julian Savulescu, die sich fragen: Was, wenn es eine Art "Moral-Pille" gäbe?
Der Mensch sei aufgrund seiner natürlichen Moralausstattung schlicht "unfit" für die Herausforderungen der Zukunft: Krieg, Terrorismus, Umweltzerstörung, Armut, Rassismus, Pandemien. Dieser moralische Trainingsrückstand berechtige dazu, dem Menschen durch moralisches "Doping" auf die Sprünge zu helfen.

Die Pille davor

Moral auf Rezept. Was sich zunächst nach billiger Science-Fiction anhört, ist gar nicht so weit hergeholt: Es gibt erste Forschungen mit dem Botenstoff Serotonin oder dem sogenannten "Kuschelhormon" Oxytocin. Die Ergebnisse deuten in der Tat auf eine medikamentöse Manipulierbarkeit von pro-sozialem Verhalten hin: Kooperationswilligkeit, Empathie, Großzügigkeit, Vertrauen.
Dagegen wird anti-soziales Verhalten häufig auf Testosteron-Überschüsse zurückgeführt. Und die chemische Kastration von Sexualstraftätern steht längst im Medizinschrank bereit. Auch wenn die Hoffnung auf eine simple Moral-Pille verfrüht erscheint: Derartige Forschungen werden Fortschritte erzielen.
Daher lohnt das Gedankenexperiment schon jetzt. Wenn Charakter und Erziehung oder wenn Demokratie und Bußgelder nicht ausreichen: Warum soll dann nicht auch die Medizin aushelfen, und zwar mit medikamentöser Moral?
Tatsächlich müssen sich diejenigen, die derzeit strenge ökologische Strafen oder auch eine staatlich überwachte Impfpflicht fordern, fragen lassen: Täte es nicht auch eine Pille? Ob man die Betroffenen per Gesetz zur Spritze oder aber zur Einnahme einer Tablette drängt, scheint nicht wirklich einen Unterschied zu machen. Oder doch?

Eine Frage der Würde

Im 15. Jahrhundert hat sich der italienische Renaissance-Philosoph Pico della Mirandola mit der menschlichen Würde beschäftigt. Diese Würde beruhe darauf, dass sich der Mensch "frei" für das Gute, aber auch dagegen entscheiden könne.
Wohlgemerkt: Nach Pico besitzt der Mensch nicht erst dann Würde, wenn er sich vernünftig zum Guten entscheidet und brav seine Pflichten erfüllt, sondern weil er ebenso frei ist, unvernünftig zu sein. Man mag das bedauern und den Menschen deshalb für ein "Mängelwesen" halten, für eine sich selbst bedrohende Spezies. Doch nähme man ihm seine ambivalente Freiheit zu Kooperation und Kooperationsunwilligkeit, nähme man dem Menschen zugleich auch seine Würde.
Daher gilt zumindest mit Blick auf die Moral-Pille: Wer dem Guten wie auf Drogen folgt, ist nicht länger frei oder vernünftig, sondern entwürdigt.
Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie hier besser einmal nicht ihren Arzt oder heutige Ethiker.

Arnd Pollmann schreibt Bücher über Integrität und Unmoral, Menschenrechte und Menschenwürde. Er ist Professor für Ethik und Sozialphilosophie an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin.

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