Kleinkrieg in der russischen Provinz

04.12.2008
In einer namenlosen Kleinstadt im Baltikum führen drei Frauen eine Art gehobenen Zickenkrieg. Ein Gebräu aus persönlicher Missgunst, nationalistischer Inbrunst und religiöser Intoleranz erweist sich als explosives Gemisch, das schon bald für Ärger sorgt. Kurz darauf beginnt der I. Weltkrieg.
Mit einer idyllischeren Szene könnte eine Erzählung kaum beginnen: Eine Frau im roten bequemen Kleid sitzt am Steilufer eines Flusses im Schatten einer Kiefer, während ihr Hündchen, "Grashalme zupfend", in der Nähe vor sich hin spielt. Am Ende dieser rasanten Erzählung ist kaum weniger als die Apokalypse angebrochen, der "Krieg ist erklärt!", ruft man einander zu, denn der Erste Weltkrieg hat soeben begonnen. Das eigentliche Schlachtengetümmel mag fernab jener namenlosen baltischen Kleinstadt, in der das Geschehen sich abspielt, liegen, sie steckt längst in ihrem eigenen Klein-Krieg.

Denn in jeder Episode des Erzählten steigern sich die Animositäten und Aggressionen, bis hin zu einem unentwirrbaren Geflecht der Anspannung, das den Kriegsanbruch wie eine logische Folge menschlichen Tuns, aber auch wie ein geradezu befreiendes Gewitter erscheinen lässt.

Drei Frauen stehen im Zentrum dieser Erzählung. Während die eine vorwiegend als Klatschbase fungiert und unablässig ihre "Beobachtungen" in die Welt setzt, ist die zweite diesem Klatsch durchaus zugetan, obendrein Deutsche und etwas verschroben, derweil die dritte, russische Nationalistin, handfeste politische Interessen hegt und der polnischen Gräfin, der eigentlichen First Lady des Ortes, den Rang ablaufen will.

In kurzen, grell gezeichneten Szenen und Dialogen versteht es der Autor, einen dunkel brodelnden Hexenkessel zu erschaffen, in dem sich persönliche Missgunst (der Lehrer sei ein japanischer Spion und werde obendrein von seiner Frau mit einer Rute gezüchtigt), nationalistische Inbrunst (das Flüsschen des Ortes wird auf die private Initiative einer der Damen hin nach einer russischen Heiligen umbenannt) und religiöse Intoleranz (zwischen Katholizismus, Orthodoxie und unierter Kirche) unheilvoll vermengen.

Dobyčins Erzählung ist wie ein schrilles expressionistisches Gemälde, das sich aus vielen schnellen, zunächst ganz harmlos wirkenden Elementen zusammen setzt und sich dabei verdichtet zu einem dunkel raunenden Gesamtbild, das eine tiefe Beunruhigung ausstrahlt.

Zum Autor
Leonid Dobyčin (1894-1936) hat nur ein schmales Werk hinterlassen, zwei Dutzend Erzählungen und zwei nicht sehr umfangreiche Romane ("Die Stadt N." und "Im Gouvernement S. Šurkas Verwandtschaft"). Sein Weg zur Literatur war ein überaus beschwerlicher. Aufgewachsen im baltischen Dünaburg (Dwinsk, Daugavpils), verschlug es ihn 1914 mit seiner Familie in die russische Provinzstadt Brjansk, wo er bis 1934 als Statistiker arbeitete und nur nebenher schreiben konnte.

1934 zog er nach Leningrad und fand Anerkennung unter den Autoren der letzten verbliebenen Avantgarde-Strömungen. Die offizielle Kritik allerdings bekämpfte ihn heftig, mit - in Stalins Sowjetunion - überaus gefährlichen Brandworten wie "feindlich" und "schändlich". Nach einer Sitzung des Schriftstellerverbands 1936 verschwand er spurlos, vermutlich nahm er sich das Leben. Sein Leichnam wurde nie gefunden.

Rezensiert von Gregor Ziolkowski

Leonid Dobyčin: Evdokija
Eine Erzählung. Herausgegeben und aus dem Russischen von Peter Urban
Friedenauer Presse, Berlin 2008
32 Seiten, 9,50 Euro