Kleines Glück inmitten der Shoa

Von Tobias Feld · 27.01.2012
Heini und Chaisa Bornstein gehören heute zu den letzten Zeitzeugen des jüdischen Widerstandes. Er schmuggelte Juden über die Schweizer Grenze, sie arbeitete bei einem SS-Mann und unterstützte Partisanen in Polen. Seit 1947 leben sie als Paar in Israel.
"Die ersten Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich kamen eigentlich schon 1932 in die Schweiz, vor dem Krieg. Man hat schon gemerkt: Die Nazis haben antijüdische Aktionen unternommen; sie waren gestärkt. Und man hat schon gefühlt: die Nazis werden an die Regierung kommen."

... erinnert sich Heini Bornstein an die Zeit, als der Antisemitismus salonfähig wurde. In Folge entstehen überall auf dem Kontinent Jugendgruppierungen, die auf eine Auswanderung ins Gelobte Land vorbereiten: Eretz Israel. Diesen Traum Theodor Herzls hat auch der Schweizer Heini Bornstein, oder die Polin Chaisa Bielicka. Dann kam der Zweite Weltkrieg und mit ihm die Zeit der Judenvernichtung. Doch nicht alle Juden ergaben sich kampflos ihrem Schicksal. Gerade jüdische Jugendgruppierungen wie Haschomer Hazair bieten den Nazis die Stirn.

Heini Bornstein: "Die Schweizer Regierung hat damals schon die Quote beschränkt. Und deshalb hatten wir auch die ersten Mitglieder des Haschomer Hazair, aber nicht nur die in Basel einerseits, und andererseits in St. Gallen 1932 legal und illegal in die Schweiz gebracht."

So lanciert der gerade einmal 12-Jährige eine der größten Rettungsaktionen der europäischen Geschichte. Nachdem die Nationalsozialisten Juden zu Freiwild erklärten, gab es für sie nur noch wenige Orte der Zuflucht. Als einer davon galt die Schweiz. Doch das Land fügte sich ohne Not bereits 1933 dem Rassendiktat Nazideutschlands, und schloss seine Grenzen für jüdische Flüchtlinge.

Heini Bornstein: "40 000 Juden wurden an der Grenze zurückgewiesen. Und dann von den Deutschen, mit Hilfe der französischen Truppen, nach Auschwitz geschickt. Das heißt, die Schweiz trägt die Verantwortung für über 40 000 Opfer, die nach Auschwitz geschickt worden. Ungefähr 25 000 Flüchtlinge wurden aufgenommen."

Schreckliche Szenen boten sich. Jüdische Flüchtlinge begingen vor den Augen der Schweizer Grenzschützer Selbstmord, nachdem sie abgewiesen wurden. Die Bilder von Schweizer Soldaten, die ihr Gewehr auf Hilfesuchende richten, gruben sich tief ins kollektive Gedächtnis der Eidgenossen ein. Fluchthelfer wie Bornstein wurden so zur einzigen Hoffnung der Flüchtlinge. Und ihre Arbeit wurde immer gefährlicher:

"Ich gehörte zu den Leuten, die gesagt haben: Wir sind streng gegen diese Flüchtlingspolitik, gegenüber den Juden. Wir waren für die Schweizer Behörden besonders interessant."

Als im Morgengrauen des 23. Juni 1941 die deutsche Wehrmacht das polnische Grodno einnimmt, ist man darüber bereits wenig später bei der Schweizer Sektion des Haschomer Hazair unterrichtet. Das europaweite Netz des sozialistischen Jugendbundes diente nun der Koordination des jüdischen Widerstands. Bald berichteten die Emissäre Bornstein von einer jungen Frau: Chasia Bielicka.

Heini Bornstein: "Durch meine Korrespondenz mit Polen wusste ich über den Widerstand in Bialystok. Dort waren fünf Mädchen - Verbindungsmädchen auf der arischen Seite."

Chasia Bielicka-Bornstein: "Anfangs waren wir 17. Die anderen wurden jedoch erwischt und ermordet."

Heini Bornstein: "Zwischen dem Deutschen annektierten Reich und der Schweiz bestand beinah über die gesamte Kriegszeit hinweg, durch unsere Verbindungsmänner, Kuriere, auch durch die Post, Postverbindung. Und dort wurde uns über die Tätigkeit dieser Mädchen berichtet - unter anderem auch über Chasia."

Chasia Bielicka ist 20, als die Deutschen im Sommer 1941 in ihre Heimatstadt einfallen. Jüdisches Leben, das zuvor das polnische Grodno prägte, wird nun ein Opfer des Holocaust. Wie Vieh deportieren die Deutschen nach und nach 11 000 Juden aus ihrem Ghetto ins nahe gelegene Vernichtungslager Treplinka. Ihr Vater, Juhuda Bielicka, findet darin als Erster aus ihrer Familie den Tod.

Chasia Bielicka-Bornstein: "Alle sind umgekommen. Nicht nur meine engsten Familienmitglieder. Auch meine Onkels und Tanten. Alle sind umgekommen. Ich bin die Einzige einer Familie von 90 Personen, die überlebt hat."

Doch Bielicka kapituliert nicht vor diesem Grauen. Mit falschen Papieren wird aus ihr über Nacht Halina Stasiuk - und damit eine jüdische Widerstandskämpferin. Tagsüber arbeite sie nun als Dienstmädchen für Luchterhand, einem SS-Offizier in Bialystok. Nachts versorgte sie die Partisanen.

Chasia Bielicka-Bornstein: "Immer wenn wir uns auf in den Weg in den Wald gemacht haben, brachten wir ihnen Gewehre, Medikamente - alles was sie brauchten, haben wir bekommen. Wir fuhren dazu in die Dörfer und bekamen all die Dinge, weil wir uns als Polinnen ausgaben. Wir mussten uns 24 Stunden am Tag maskieren, um nicht enttarnt zu werden. Jeden Moment konnte etwas passieren."

So stahl sie bei Luchterhand Munition und schmiedete Attentatspläne gegen hohe SS-Offiziere oder deutsche Züge, um den Todesfahrten nach Treblinka ein Ende zu setzten. Doch dann nahte der 27. Juni 1944. Sowjetische Truppen rücken unter Mithilfe der Partisanen auf Bialystok vor. Wochen zuvor hatte sich Bielicka als Spionin unter die Besatzer gemischt, um die Sowjets über die Lage der deutschen Flugabwehrwaffen, Mienenfelder oder Panzergräben in Kenntnis zu setzten. Bialystok fällt und die Tore des Todeslagers Treblinka öffnen sich:

"Ich war ganz alleine, und machte mich auf nach Warschau. Doch wir sahen, dass viele, viele Juden aus den Konzentrationslagern eintrafen. Darunter viele Jugendliche und Kinder. Man hat beschlossen, diese Kinder zu retten. Ich wanderte dann mit 80 Kindern durch ganz Europa."

Doch die Hatz war damit nicht zu Ende:

"Überall herrschte Antisemitismus. Es verging beinah keine Nacht, in der sie nicht Juden aus dem Zug zerrten und erschossen. Die älteren Kinder wurden mir anvertraut, um sie nach Marseille zu bringen, alles illegal. Von einem kleinenkleinen Hafen dort, sind wir auf ein altes Schiff, 2 600 Leute, 17 Tage bis Tel Aviv. Tagsüber mussten wir unter Deck sein, damit uns die Briten nicht entdeckten."

Doch ein britischer Zerstörer, der vor Haifa kreuzte, brachte sie auf. Drei junge Einwanderer kamen so ums Leben, als man vom Kriegsschiff aus das Feuer auf die "Boatpeople" eröffnet:

"Sie haben uns gefangen und nach Zypern gebracht. Dort brachten wir über ein halbes Jahr in einem Camp der Briten zu, bis wir dann in Israel einreisen konnten."

Auch Heini Bornstein wählt den Seeweg nach Palästina. Doch dank eines gefälschten britischen Passes des Mossads gelangt er unbehelligt ins Land. Am 14. September 1947 dann endlich betritt auch Chasia Bielicka gelobtes Land. Heini Bornstein erwartet sie bereits sehnlich; ein Jahr zuvor, beim "Europäischen Kongress der kämpfenden jüdischen Jugend" verliebten sich beide ineinander. Unweit der Golanhöhen bestellten sie fortan mit anderen Pionieren einen Flecken Land, das Kibbuz Lehavot HaBashan, auf den sie heute noch leben. Inmitten des Schreckens der Shoa haben Heini und Chasa Bornstein ihr kleines Glück gefunden.
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