Kleine Tyrannen

18.02.2010
Was ist das Beste für mein Kind? Wie erziehe ich es richtig? Fragen, die Generationen von Eltern beschäftigt und geprägt haben und es heute mehr denn je tun. Eltern scheinen sich nicht nur um ihr Kind zu ängstigen, sondern auch vor ihrem Kind, schreibt die Historikerin Miriam Gebhardt in ihrem Buch: "Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen".
Sie untersucht detailliert die Entwicklung der Erziehungsliteratur der vergangenen 100 Jahre und stellt fest: Erziehungsratgeber machen Kinder zu Tyrannen, weil sie Eltern vorgaukeln, man könne alles richtig machen.

Eine Bewertung der Erziehungsratgeber darf der Leser aber nicht erwartet, vielmehr beschreibt Miriam Gebhardt den Einfluss der Ratgeberliteratur auf die Erziehung. Sie zeigt in ihrem Buch anhand von Elterntagebüchern aus fast zehn Jahrzehnten, wie sich die Tipps und Ratschläge aus der Literatur im Alltag der Familien niederschlagen.

So empfehlen Ratgeber zu Beginn des Jahrhunderts Kinder strikt nach bestimmten Rhythmen zu füttern, zu wickeln und schlafen zu legen. Hygiene und Ernährung sind bis in die 60er-Jahre die Hauptthemen der Ratgeberliteratur. Lange Zeit stehen "technische Aspekte" im Vordergrund, konstatiert die Historikerin, Gefühle gilt es zu vermeiden.

Mit zahlreichen Zitaten aus privaten Elterntagebüchern belegt sie eindrucksvoll, wie sehr sich Eltern an teilweise grausame Vorgaben und Ratschläge gehalten haben. Die Macht der Ratgeberliteratur ist erstaunlich, und sie wird dem Leser deutlich vor Augen geführt.

So mussten Säuglinge beispielsweise vom ersten Tag ihres Lebens an die Nacht ohne Nahrung durchstehen. Die Kinder bis zur Erschöpfung schreien zu lassen, galt mehrere Jahrzehnte als Abhärtungstraining. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten Pädagogen und anderen Experten das Kind als "kleinen Tyrannen" definiert, den es zu kontrollieren galt.

Erst in den 70er-Jahren ändert sich diese Sichtweise und emotionale und kognitive Aspekte in der Kindererziehung treten in den Vordergrund.
Eltern notieren nun, wie sie das Kinderbett ins Elternschlafzimmer stellen, schreiben über das erste Lächeln oder wie ihr Kind auf andere Menschen reagiert.

Diese neue Perspektive auf das Kind wurde in Westdeutschland durch Ratgeber aus den USA ausgelöst, die Ende der 60er-Jahre auf Deutsch erschienen, schreibt Miriam Gebhardt. Wie die Entwicklung zu dieser Zeit in der DDR aussah, reißt sie leider nur kurz an. Das Buch entstand im Rahmen ihrer Habilitation und fokussiert die westdeutsche Perspektive. Das ist schade.

Einige Einbußen muss der Leser auch in Punkto Lesbarkeit hinnehmen. Zahlreiche Fußnoten erschweren die Lektüre. Trotzdem ein empfehlenswerter Titel, denn Miriam Gehardt ist es durch die vielen Zitate aus den Elterntagebüchern gelungen, ein lebendige Bild über den Umgang mit Erziehungstipps und –trends zu zeichnen.

Interessant ist vor diesem Hintergrund auch ihr Ausblick ins 21. Jahrhundert. Eine Flut von Erziehungsratgeber, Fernsehsendungen wie "Die Super Nanny" und Forderungen von Politiker und Pädagogen nach einem Elternführerschein, zeigen wie sehr das Thema Erziehung in der öffentlichen Diskussion steht.

Eltern schreiben immer noch über ihre Kinder, nur das sie das heute häufig in Internetforen oder Blogs tun. Dort kann man lesen, schreibt die Historikerin Gebhardt, das der Druck es "richtig" zu machen, bleibt. Das Gute: Nach dem ausführlichen Blick auf das vergangene Jahrhundert, weiß der Leser, wie konstruiert, ambivalent und wechselhaft die Ratschläge der Experten sind.

Besprochen von Susanne Nessler

Miriam Gebhardt: Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen. Eine Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert
DVA München, 2009, 350 Seiten, 24,95 Euro