Kleine Theorie des Drogenhandels

13.11.2008
Nachfragespitzen und Drive-by-Shootings: Der amerikanische Soziologe Sudhir Venkatesh fragt in "Underground Economy" nach den Gemeinsamkeiten von Gangs und Unternehmen. Das Buch ist eine faszinierende Reportage aus einem Viertel, in dem mehr als 90 Prozent der Bewohner von Sozialhilfe leben. Venkateshs Erlebnisse sind spannend, ergreifend und komisch zugleich - ein Einblick in eine fremde und dennoch durch und durch menschliche Welt.
Im Herbst 1989 macht sich der Soziologiestudent Sudhir Venkatesh in Chicago mit einem Klemmbrett unter dem Arm auf den Weg in eine heruntergekommene Hochhaussiedlung. Er beginnt seine Befragung bei einer Gruppe von Teenagern: "Was ist das für ein Gefühl, schwarz und arm zu sein?" Gelächter, dann blickt er in den Lauf einer Pistole. Doch Venkatesh ist hartnäckig. Er kommt wieder und stellt andere Fragen. Insgesamt verbringt er so fast zehn Jahre in den Robert Taylor Homes, einem der "schlimmsten Ghettos" der USA, und bekommt die Gelegenheit, bei den "Black Kings" die Arbeitsweise und Organisationstruktur einer Gang von Crack-Dealern zu erforschen.

Heute ist Venkatesh ein renommierter Akademiker. Das hindert ihn nicht daran, die Ergebnisse seiner Studien als spannendes Sachbuch zu veröffentlichen: "Underground Economy", Untertitel: "Was Gangs und Unternehmen gemeinsam haben". Die Frage nach den betriebswirtschaftlichen Aspekten einer Straßenbande drängt sich tatsächlich auf. Die Mitglieder der Black Kings sprechen von "Produkt", "Umsatz" und "Gewinn", von "Nachfragespitzen" und "Outsourcing".

Und ihr lokaler Anführer, mit dem Venkatesh sich interessanterweise anfreundet, liefert die Bruchstücke zu einer Theorie des lokalen Drogenhandels. Unter anderem hält er sich an die Strategie "des sicheren Vorteils": Rabatte jetzt oder nie, längerfristige Termingeschäfte sind beim Großeinkauf von Drogen ausgeschlossen. "Wenn ein Nigger mir erzählt, dass er in einem Jahr etwas zu verkaufen hat, dann lügt er. In einem Jahr kann er im Knast sitzen oder tot sein."

Drive-by-Shootings sind an der Tagesordnung. Venkatesh muss lernen, dass das Leben in den Siedlungen der Schwarzen "zu hart und zu chaotisch ist für die halbherzigen Appelle" der Sozialwissenschaftler. Er verabschiedet sich von der Vorstellung, die "Gesellschaft weiterzubringen", und versucht lieber, die Schattenökonomie des Drogenhandels so genau wie möglich zu analysieren: Wer versorgt die kleinen Dealer, wie hoch sind die Abgaben an die Bosse, und was kostet es, einen Stadtrat zu bestechen?

Seinen streng moralischen Standpunkt gibt der Soziologe dabei nie auf. Venkatesh kritisiert die korrupten Politiker und Verwaltungsangestellten genauso wie die Black Kings und ihre Behauptung, sie würden der "community" einen Dienst erweisen, indem sie in den verwahrlosten Siedlungen für die Sicherheit der Bewohner sorgen: Die Gang sorgt nur deshalb selbst für Ruhe und Ordnung, weil Polizeieinsätze den reibungslosen Ablauf des Crack-Geschäfts gefährden würden.

Venkatesh interessiert sich allerdings nicht nur für den Drogenhandel, sondern für sämtliche Aspekte der Schattenwirtschaft. Die "Besserverdienenden" der Siedlung flicken für 500 Dollar im Monat Autos zusammen, während die Zigarettenverkäufer und Hehler mit 75 Dollar ganz unten auf der Einkommensskala rangieren. Die Frauen der Siedlung haben darüber hinaus ein komplexes Tauschnetzwerk organisiert, bei dem Altkleider mit Babynahrung oder ein Mittagessen mit einer Mitfahrgelegenheit verrechnet wird.

Es funktioniert, trotz Crack und Gewalt, und das ist die wichtigste Erkenntnis von "Underground Economy": Arme sind keine "glücklosen Tölpel", denen die Fähigkeit zum vorausschauenden Handeln fehlt. Sie "managen" ihr Leben einfach nur nach anderen Regeln.

Rezensiert von Kolja Mensing

Sudhir Venkatesh: Underground Economy. Was Gangs und Unternehmen gemeinsam haben
Aus dem Amerikanischen von Christoph Bausum
Econ, Berlin 2008
331 Seiten, 18 Euro