Kleine Liebesgeschichten ganz groß

09.01.2012
Der Schweizer Journalist und Schriftsteller Erwin Koch setzt dort an, wo Hollywood aufhört: nach dem ersten Kuss. Er beschreibt Paare, ohne sie zu bewerten. Keine der Geschichten lässt den Leser kalt, auch wenn sie ohne sensationelles Geschehen auskommen.
Liebe ist nicht das, was man für ein klassisches Reportagethema halten würde. Sie entzieht sich schon deshalb, weil sie zwischen Sonntagspredigten und Hollywoodfilmen nur schwer zu verorten ist und für jeden Menschen etwas anderes bedeutet. Spektakulär ist sie vielleicht gerade da, wo sie unscheinbar ist und dauert, sich dem raschen, journalistischen Zugriff also entzieht.

Der Schweizer Journalist und Schriftsteller Erwin Koch ließ sich davon nicht abschrecken. Seine unter dem Titel "Was das Leben mit der Liebe macht" versammelten Reportagen, die er als "Wahre Geschichten" bezeichnet, sind dokumentarisch nüchterne Porträts von Paaren. Ihre emotionale Kraft gewinnen die Texte aus der zurückhaltenden Beobachterposition des Autors. Er kommentiert und wertet nicht, sondern gibt möglichst schmucklos und direkt wieder, was ihm berichtet wurde – in aller rührenden Schlichtheit oder in ungemilderter Brutalität.

Von Ossetien bis nach Guatemala reichen die Orte, an denen er untersucht, wie das Leben der Liebe zusetzt, wie die Liebe sich behauptet oder auch unmöglich gemacht wird. Da, wo Hollywoodfilme aufhören – beim ersten Kuss –, setzt er mit seinen Beobachtungen ein. Liebe ist eine Langstreckendisziplin.

Happy endings gibt es dabei eher nicht. Im besten Fall steht am Ende immer der Tod. Alois und Annely sind so ein Paar, das in der Schweizer Provinz und mit regelmäßigen Urlauben in Gran Canaria sein ganzes Leben miteinander verbringt, so treu und zärtlich wie einst Philemon und Baucis. Mehr als fünfzig Jahre leben sie miteinander, bis Alois, von Annely gepflegt, an Krebs stirbt.

Andere Geschichten sind weniger idyllisch, so wie die von Irena und Sokol aus Albanien, die in archaischen Verhältnissen spielt und von Blutrache und Zwangsverheiratung handelt. Oder die Geschichte von Melanie und Leo, bei dem kurz nach der Heirat ein Gehirntumor diagnostiziert wird, der seine Persönlichkeit völlig verändert. Die Ehe wird zum Desaster, Leo missbraucht die beiden kleinen Kinder, und doch hält Melanie am Ende wieder zu ihm: "Sie küsst ihn auf die Stirn, sieht den Tumor, der aus seinem Nacken dringt, mandarinengroß."

Merkwürdig, dass Liebe so viel mit Trauer zu tun hat, mit Verlusten, Illusionen, Verzweiflung. Aber manchmal ist sie auch der großer Tröster, wie für Doris und Josef: Sie wiegt hundertfünfzig Kilo, kann kaum schreiben und wurde aus der Psychiatrie entlassen, er ist ein arbeitsloser Eisenbahner, der wegen schwerer Sachbeschädigung angeklagt wird. Ihr größtes, ihr einziges Glück besteht darin, sich gefunden zu haben.

Erwin Koch macht dieses Glück anschaulich, indem er es beschreibt, ohne es abzuwerten. Sein Trick besteht darin, keine Gefühle zu schildern, sondern sich auf das äußerlich Sichtbare und das, was ihm berichtet wurde, zu beschränken. Mit geradezu wissenschaftlicher Exaktheit benennt er immer wieder die Orte, Straßen und Hausnummern des Geschehens, das Datum und die Uhrzeit und bei Bedarf auch die Blutgruppe. In diesen kategorialen Rahmen von Raum und Zeit stellt er die Menschen seiner Geschichten, deren Leben, weil sie es so entschlossen gemeinsam betreiben, auf unterschiedlichste Weise den Tatbestand der Liebe erfüllt. Keine dieser Geschichten lässt einen kalt. Am besten sind aber die, die ganz ohne sensationelles Geschehen auskommen, ohne Mordversuch und Flugzeugabsturz. In den stillen Tönen entfaltet sich die Reportagekunst von Erwin Koch.

Besprochen von Jörg Magenau

Erwin Koch: "Was das Leben mit der Liebe macht. Wahre Geschichten"
Corso Verlag, Hamburg 2011
132 Seiten, 19,90 Euro
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