"Kleine Gründungswelle" bei Genossenschaften

Burghard Flieger im Gespräch mit Marietta Schwarz · 28.12.2011
Der Soziologe Burghard Flieger erwartet einen Aufschwung für die Unternehmensform der Genossenschaften. Gerade für Teamgründungen, die die Hälfte der Existenzgründungen ausmachen, sei die Genossenschaft die ideale Organisationsform, da man unkompliziert ein- und aussteigen könne.
Marietta Schwarz: Gemeinsam sind wir stark – es scheint, als ob diese Parole wieder aus der Mottenkiste geholt wird: Wutbürger in Stuttgart, Fluglärmgegner im Rhein-Main-Gebiet, die Occupy-Bewegung, Demonstranten in Spanien oder Israel kämpfen alle für eine andere Politik.

Seltener im Blickfeld ist der Gemeinschaftsgedanke im Bereich der Wirtschaft, denn dort gilt ja die Gesetzmäßigkeit: Der Stärkste setzt sich durch. Die Vereinten Nationen machen sich da für ein Umdenken stark: Sie haben das Jahr 2012 zum Jahr der Genossenschaften ausgerufen, 150 Jahre, nachdem dieses Modell in Deutschland von Ferdinand von Raiffeisen eingeführt wurde.

Der Soziologe und Volkswirtschaftler Burghard Flieger, der beschäftigt sich schon seit 30 Jahren mit Genossenschaften. Herzlich Willkommen, Herr Flieger!

Burghard Flieger: Ja, einen wunderschönen guten Tag!

Schwarz: Nach Angaben der Vereinten Nationen findet die Hälfte der Weltbevölkerung ihre Ernährungsgrundlage in Genossenschaften, dennoch wird ja über Genossenschaften vergleichsweise wenig oder fast gar nicht geredet. Ist das denn eine Form, ein Modell, das gemeinhin unterschätzt wird?

Flieger: Also erstens wird es tatsächlich unterschätzt, sage ich mal. Das Interesse hat sehr lange nachgelassen, weil bei uns ja auch die Ideologie herrscht: Der Einzelne, der Starke wird es machen, der Unternehmer. Die Realität sieht aber ganz anders aus: Über die Hälfte aller Existenzgründungen sind sogenannte Teamgründungen, und gerade für Teamgründungen – wenn die wachsen wollen – ist die Genossenschaft die ideale Organisationsform.

Schwarz: Warum?

Flieger: Weil man mit vielen gleichberechtigt, gemeinsam entscheiden kann, man ist gleichberechtigter Gesellschafter, und gleichzeitig – und das ist das Wichtige bei der Genossenschaft: Man kann relativ unkompliziert in die Unternehmung einsteigen und aussteigen. Im Vergleich zu anderen Unternehmensformen wie der GmbH und der Aktiengesellschaft ist es einfach erheblich kostengünstiger, sich mit vielen gemeinsam in der Genossenschaft zu organisieren.

Schwarz: Dem Ganzen hängt ja so ein Image an, was allseits nicht ganz so beliebt ist: Man muss sich mit jedem abstimmen, alle sind gleichberechtigt, man muss viel reden, um dann doch vielleicht zu keiner Lösung zu kommen. Ist dieses Image berechtigt?

Flieger: Na ja, das ist natürlich, sage ich mal, eher ein Vorurteil. Die Genossenschaft ist eine sehr klar strukturierte Organisationsform, wo der Vorstand – das ist sehr ausgeprägt – in eigener Verantwortung die Genossenschaft leitet. Er wird kontrolliert von einem Aufsichtsrat, der, wenn ??? zustimmungspflichtiger Entscheidungen gibt, relativ starke Kontrollrechte haben kann, nicht muss. Und dem ganzen übergeordnet ist die Generalversammlung, also die Versammlung der Mitglieder. Die tagt aber, wenn nichts anderes irgendwo festgelegt, nur einmal im Jahr, und da hat sie natürlich über das Jahresergebnis und die Verwendung des Jahresergebnisses, über die Entlastung vom Vorstand, über die Wahl von Aufsichtsräten und Ähnliches mehr zu beschließen. Aber den Alltag, den bestimmt der Vorstand.

Schwarz: Aber woher kommt es denn dann, dieses Vorurteil oder dieses Phänomen, dass weniger Genossenschaften gegründet werden, dass man auf diese Idee vielleicht gar nicht kommt, sondern eher sagt, ich will jetzt ein Unternehmen gründen, ganz klassisch?

Flieger: In unserer Beratungsinfrastruktur in diesem Bereich der Existenzgründung gibt es eine sehr starke Vernachlässigung bis zu einem Unwissen in Richtung Genossenschaftsgründung. Das hängt damit zusammen: Die ganzen Existenzgründungsberater, Steuerberater, Unternehmensberater konzentrieren sich auf andere Organisationsformen als die Genossenschaft. Das hängt ein wenig damit zusammen, dass eine Genossenschaft Pflichtmitglied in einem genossenschaftlichen Prüfungsverband sein muss. Und diese Prüfungsverbände, die versuchen, alles abzudecken, was mit der Beratung und Betreuung von Genossenschaften zu tun hat, also die Steuern, die Rechtsberatung, die Buchhaltung und vieles andere mehr. Dadurch sind Unternehmensberater und Existenzgründungsberater nicht interessiert.

Schwarz: Die würden sich ins eigene Fleisch schneiden.

Flieger: Genau. Und das ist aus meiner Sicht eine ungeschickte Unternehmenspolitik der genossenschaftlichen Prüfungsverbände, die quasi keine vernünftigen Kooperationsstrukturen mit Externen außerhalb des Verbandswesens praktizieren. Und das hat letztlich dazu geführt, dass die Genossenschaft in der gesamten Rechtsformlandschaft extrem vernachlässigt ist.

Schwarz: Würden Sie denn sagen, eine Genossenschaft ist immer auch ein soziales, ein politisches Statement?

Flieger: Also das haben auch die Prüfungs- und Genossenschaftsverbände jahrelang zumindest in Deutschland, muss man sagen, negiert. Die wollten immer, dass die Unternehmensform der Genossenschaft quasi eine Wirtschaftsorganisation ist und sonst nichts. Aber in Wirklichkeit – und das wird in der Theorie sehr stark betont – gibt es die sogenannte Doppelstruktur der Genossenschaft: Sie ist nämlich Wirtschafts- und Sozialorganisation. Und in der Sozialorganisation, da werden dann viel stärker besondere Interessen und Nutzen der Mitglieder verfolgt. Die können politisch, kulturell, sozial sein, die können aber auch ökonomisch, also im Sinne von preisgünstigem Einkauf von Energie, von Energieeinsparungen, von sicherer Bodenversorgung und anderes mehr sein.

Schwarz: Wo stehen wir denn heute, 150 Jahre nach der Einführung des Genossenschaftsmodells, in Deutschland da, im internationalen Vergleich?

Flieger: Wir sind wieder im Kommen. Es gibt eine kleine Gründungswelle, die ist noch sehr behutsam, die konzentriert sich sehr stark auf den Bereich Energiegenossenschaften und Genossenschaftsgründungen im ländlichen Raum, also zum Beispiel Dorfladengenossenschaftsgründungen, und im Bereich der Wohnversorgung von wertgebundenen Wohnunternehmen, also generationsübergreifendes Wohnen, ökologisches Wohnen, Frauenwohnen. Da gibt es verstärkte Neugründungen.

Schwarz: Es gibt ja so eine Art Besinnung aufs Do-it-Yourself, ein Schwinden in das Vertrauen der Politik. Man tut sich – Sie haben das ja auch gerade erwähnt – in Großstädten zusammen und betreibt Gemeinschaftsgärten und Baugruppen. Sind wir, Herr Flieger, reif für mehr Eigeninitiative, Engagement und damit für das Modell Genossenschaft, oder ist es dann am Ende doch nur ein frommer Wunsch?

Flieger: Ich bin natürlich extrem überzeugt von der Organisation der Genossenschaft. Aber im Moment kommt tatsächlich das, was Sie ansprechen, noch da hinzu: Es gibt das Gefühl, dass man viele Dinge nicht einfach an Großunternehmen oder an Teile der Politik delegieren kann, sondern dass man einen Teil der Entscheidungseinbindung doch irgendwie stärker praktizieren muss, als es im Moment Realität ist. Da ist die Genossenschaft sozusagen die ideale Form, weil sie immer so neben der wirtschaftlichen Beteiligung, woraus dann gesellschaftsrechtliche, unveränderbare Einflussmöglichkeiten resultieren, und zusätzlich eben noch stärkere Einbindung, Partizipation, Mitsprache ... Und diese beiden Dinge zusammen, da gibt es ein starkes Bedürfnis nach, und von daher ist im Moment die Genossenschaft tatsächlich eine ideale Antwort auf Politik- und Unternehmensverdrossenheit.

Schwarz: Burghard Flieger, Genossenschaftsexperte und Vorstand der innova eG. Herzlichen Dank, Herr Flieger, für das Gespräch!

Flieger: Ja, gerne, danke schön auch!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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